17. Februar 2020

Zwischen Glauben und Wissen Meinungsbildung und Meinungsstreit in einer komplexen Welt

In einer nicht durchschaubaren Welt, die unaufhörlich Daten produziert, deren Relevanz, Richtigkeit und ursprüngliche Herkunft unklar sind, fällt es schwer, sich in der Einschätzung und Beurteilung von Abläufen und Ereignissen seriös festzulegen. Es gibt mit dem Internet einen Überfluss an Daten und gleichzeitig einen Mangel an validen Informationen.

Nun ist es zum Glück nicht so, dass wir zu allem und jedem eine feste Meinung haben müssten. Vielmehr nerven uns Menschen, die glauben, zu was auch immer einen inhaltlichen Beitrag leisten zu müssen, gleichgültig, ob sie die Faktenlage kennen oder nicht. Solche Menschen haben viel Meinung und wenig Ahnung, um mit Harald Lesch, einem aus dem Fernsehen bekannten Astrophysiker und Philosophen, zu sprechen. Falls sie in machtvollen Positionen sitzen, kann es sogar gefährlich werden. Umgekehrt leidet die persönliche Autorität gewöhnlich nicht, wenn man explizit zu einem bestimmten Thema mangels inhaltlicher Beschäftigung oder wegen allzu undeutlicher Faktenlage keine (abgeschlossene) Meinung besitzt. Wer jedoch zu nichts und niemandem eine persönliche Meinung hat, bekommt ein Problem. Nach außen wirkt der oder die Betreffende schwach und langweilig, nach innen äußert sich das Problem in Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, die wir gewöhnlich nicht lange aushalten. Zu Themenbereichen, die uns aus welchen Gründen auch immer wichtig sind, können wir es gar nicht vermeiden, zumindest eine gefühlte Meinung zu entwickeln. Ob wir dabei eindeutige oder ambivalente Gefühlslagen spüren und ob wir unsere gefühlte Meinung kommunizieren, ist eine andere Frage.

Meinungen beinhalten Werte und Grundannahmen zu unserer Wirklichkeit. Damit schaffen sie Orientierung, Identität und Zugehörigkeit, das sind stabile Elemente in einer Welt, in der viele Strukturen und Verhältnisse instabil geworden sind. Mit explizit geäußerten Meinungen wird man Teil einer „Community“. Dadurch gewinnt man u.a. Bestätigung, Einfluss und Sicherheit. Wir scheinen mit unseren Gefühlen richtig zu liegen. Für Meinungslosigkeit gibt es keine Communities. Wer zu nichts und niemandem etwas sagen kann oder sagen will, verliert an persönlicher Autorität. Dasselbe gilt für Menschen, die wichtigtuerisch zu allem und jedem nur Substanzloses von sich geben.

Frühere Generationen hatten es einfacher. Sie wuchsen ganz überwiegend in festen sozialen Milieus auf, und damit war meistens klar, wie sie auf bestimmte Fragen schauen und welche Meinung sie dazu haben. Heute sind fast überall die sozialen Bindungen schwächer geworden, deshalb obliegt es viel mehr dem Einzelnen, sich zu positionieren. In gewisser Weise sind die Dorfgemeinschaften von früher die Internet Communities von heute. Nur kann man sie sich heute aussuchen.

Sich mit guten Argumenten in einer komplexen Welt klar zu positionieren, auch wenn wichtige Informationen fehlen, unklar und/oder nur bedingt glaubhaft sind, ist anspruchsvoll. Es erfordert Denkarbeit und Mühe für Recherchen und Plausibilitätsüberprüfungen. Im Netz kann man Beispiele finden, wo es offensichtlich anders gelaufen ist. Hier ist eines davon:

„Die Klimahysterie hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Das ist auch nicht beabsichtigt und auch nicht gewollt. Es soll nur abgelenkt werden, weil es darum geht, die Menschheit auszupressen, weil damit Billionen verdient werden können und mit der erzeugten Angst lässt sich alles mit der Politik erreichen.“ (Kommentar vom 20.12.2019 zu einem YouTube Beitrag von Michael Limburg „Was Sie schon immer über den Treibhauseffekt wissen wollten“)

Glaubensstärke und die verführerische Kraft der Intuition

Wenn Fakten negiert, das Urteil der überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler abgewehrt und krude Verschwörungstheorien weiterverbreitet werden, wird als Begründung neben einigen wenig überzeugenden Indizien oft der „gesunde Menschenverstand“ bzw. das „Bauchgefühl“ angeführt. Im Grunde genommen wird Wissen durch Glauben ersetzt. Und dieser Glaube ist manchmal so fest, dass Kirchen neidisch werden könnten. Das Phänomen erinnert an US-amerikanische Evangelikale im sogenannten Bible Belt, die u.a. die Evolutionstheorie für Teufelszeug halten.  

Es scheint nicht selten vorzukommen, dass Menschen umso fester glauben, je weniger sie wissen. Fester Glaube schützt vor Zweifel. Gerade bei besonders Uninformierten findet man fraglose Total-Überzeugungen, die teilweise auch noch im Bewusstsein, Teil einer alternativen und neuen Elite zu sein, vorgetragen werden. Die Motive dafür sind ein Mix aus: Denkfaulheit, Sorge vor Konflikten in der Meinungscommunity, das angstvolle Bemühen um die Aufrechterhaltung des eigenen Weltbildes sowie das Festklammern an Privilegien und Gewohnheiten des praktizierten Lebensstils. Paradoxerweise wird jedoch die Aufrechterhaltung von Privilegien und des praktizierten Lebensstils mittel- bis längerfristig besonders stark gefährdet, wenn Rationalität und wissenschaftliches Denken ausgeschaltet werden. Ein enges, faktenbefreites und nach außen hermetisch abgeriegeltes Weltbild wird über kurz oder lang mit der Realität in Konflikt geraten.

Das Bauchgefühl oder die Intuition ist grundsätzlich eine sehr starke und wertvolle Hilfe, wenn es um persönliche Einschätzungen und gute Entscheidungen geht. Im Grunde handelt es sich um einen unbewussten Problemlösungsprozess: Unser Gehirn vergleicht den Input von unseren Sinnesorganen, z.B. das, was wir hören und sehen, mit im unbewussten Gedächtnis abgespeicherten Erfahrungsmustern. Wird es fündig, meldet es dies mit einem Gefühl, das als eine sanfte Empfehlung oder auch als eine starke Handlungsaufforderung wirkt. Unser rationaler Verstand ist vergleichsweise kritischer, sehr viel präziser, dafür aber langsam und er kommt schlecht mit Komplexität zurecht. Das liegt vor allem an seinem relativ geringen Arbeitsspeicher. Unsere Intuition ist dagegen sehr schnell und hat es leichter mit Komplexität, weil die Erfahrungsmuster ganzheitlicher Natur sind. Allerdings arbeitet sie keineswegs fehlerfrei. Manchmal „erkennt“ das Gehirn Muster in unserer Umgebung, wo es gar keine gibt. Zudem sind unsere Erfahrungsmuster in der Vergangenheit unter spezifischen Bedingungen entstanden, die sich in der Zwischenzeit geändert haben können. Und schließlich ist der Input, also das, was wir wahrnehmen, ganz wesentlich von unseren Denkgewohnheiten, Vorannahmen, Wünschen, Bedürfnissen und Sorgen bestimmt. Der Output kann also auch nur subjektiv sein.

Idealerweise gibt es zwischen den beiden Teilen unserer Intelligenz – Intuition und Rationalität - ein gutes Teamwork. Anfälliger weil grundsätzlich schwächer ist unser rationaler Verstand. Nicht selten suchen wir nachträgliche Begründungen für Einschätzungen und Entscheidungen, die unser Bauchgefühl schon längst getroffen hat. Oder wir „helfen“ unserem Bauchgefühl, wenn es unsicher ist und Ambivalenz meldet. Ambivalenz empfinden wir als unangenehm, deshalb werden wir verleitet, uns schein-rational mit eindeutigen Erklärungsmustern, das sind meistens sehr einfache und unterkomplexe, anzufreunden.

Meinungslose, Opportunisten und Wichtigtuer 

Anders, als es bei den unbeirrbar Meinungsstarken der Fall ist, gibt es auch Menschen, die viel wissen und sich gerade deshalb nicht zu einer eigenen Meinung durchringen können. Sie wissen nämlich auch, dass sie Vieles nicht wissen. Manche von ihnen hören deshalb gar nicht auf zu lavieren und zu relativieren, weil doch alles auch ganz anders sein könnte. Dahinter kann intellektuelle Redlichkeit stecken, eher aber die Angst, sich falsch zu entscheiden, der „Political Correctness“ nicht zu genügen, Widerspruch zu ernten und/oder es nicht allen Recht machen zu können. Es allen Recht zu machen versuchen auch Opportunisten, die hyperflexibel ihre Meinung ändern, je nachdem, mit wem sie gerade sprechen. Und dann gibt es noch die Wichtigtuer, die meinen, überall bedeutungsschwer mitreden zu müssen, obwohl sie wenig bis keine Ahnung haben. Von außen wirken alle diese Menschen konturlos, die Meinungslosen wirken obendrein blutleer und langweilig. Mit ihnen allen ist es schwierig etwas anzufangen, wenn es darum geht, gemeinsam den Alltag und die Zukunft erfolgsversprechend zu gestalten.

Was ist nun eine gute Alternative zwischen faktenbefreiten Behauptungen, wildem Opportunismus, Wichtigtuerei und Meinungsverweigerung?

Eine feste Meinung bilden mit „Hintertürchen“

Zunächst ist es notwendig, sich zu entscheiden, ob und wozu eine explizite Äußerung z.B. im Kollegen- oder Freundeskreis, in der Nachbarschaft, in Vereinen, in Medien oder sonst wo sinnvoll bzw. notwendig ist. Warum ist mir das Thema wichtig? Was möchte ich erreichen? Was geht mir gegen den Strich? Habe ich belastbare Argumente? Je nach Situation ist dafür mehr oder weniger Selbstvertrauen, Standfestigkeit und Mut erforderlich.

Etwas Substanzielles beitragen heißt, seine Meinung verständlich, nachdrücklich, logisch und mit nachvollziehbaren Begründungen darzulegen. Überzeugend sind Begründungen dann, wenn sie auf überprüfbaren Fakten basieren. Davon gibt es in einer komplexen Welt leider oft nicht genügend viele.

Fakten sind geprüfte Informationen. Informationen bündeln wir zu Hypothesen. Die nach unseren Einschätzungen besten Hypothesen bilden zusammen mit gelernten Setzungen bzw. Definitionen unser Wissen. Es basiert auf unseren Erfahrungen und auf von anderen Menschen, die wir als Autoritäten akzeptieren, Übernommenes. Explizites Wissen kann man sich vorstellen als ein Netz aus logisch miteinander verknüpften Informationen und Setzungen. Wie gut dieses Netz die Realität abbildet, ist offen. Zutreffende Vorhersagen sind ein positives Zeichen, kein Beweis. Unser Wissen kann mit anderen Worten immer nur vorläufig sein, so lange nämlich, wie die zugrundeliegenden Hypothesen nicht falsifiziert sind. Noch anders ausgedrückt: Unser Wirklichkeitsverständnis ist immer subjektiv und so gut, wie es unser Set an Hypothesen über die Welt ist. Bei aller Relativität: Ein Netzwerk aus reflektierten Hypothesen ist natürlich viel wertvoller, weil der äußeren Realität angemessener, als ein Sammelsurium wilder Annahmen und Unterstellungen - es sei denn, man möchte bewusst falsche Vorstellungen verbreiten oder aus welchen Gründen auch immer Unsicherheit auslösen und Verwirrung stiften.

Fraglose Totalüberzeugung ist ein Hinweis auf Ignoranz, fehlendes Wissen und/oder Selbstschutz. Beim Handeln kann das gefährlich werden. Das Gegenteil, andauernde Unentschlossenheit und Meinungsverweigerung, bedeutet Lähmung und Stillstand. Um wirksam und auf Dauer erfolgreich zu sein, müssen wir uns in wichtigen Fragen festlegen, zumindest vorläufig, auch wenn es sich später als falsch herausstellen sollte. Gleichzeitig müssen wir uns, um diskursfähig zu sein, ein Hintertürchen offenhalten, etwa nach dem Motto „Ihr werdet ausgezeichnete Argumente benötigen, um mich von meiner Meinung abzubringen, aber ihr habt die Möglichkeit dazu.“ Wenn ein Diskurs Sinn machen soll, muss Entschiedenheit von der grundsätzlichen Bereitschaft begleitet sein, sich auch anderweitig überzeugen zu lassen. Es ist wichtig, im Gespräch und auch außerhalb davon immer wieder die eigenen Grundannahmen und Werte zu überprüfen. Dazu gehört es, sich zuzumuten, auch andere oder gegenteilige Meinungen aufmerksam anzuhören und zu bedenken, selbst wenn sie uns zunächst völlig abwegig oder ärgerlich erscheinen.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


Individuelle Beratung unter +49 69 9399677-0 oder info@metrionconsulting.de

Für Meinungslosigkeit gibt es keine Communities.

Wolfgang Reiber - Partner im Ruhestand, Metrion Management Consulting