Im ersten Teil meines Beitrags zur 'Kunst der Rückmeldung' habe ich argumentiert, dass der Fokus von klassischen Feedback-Trainings häufig verengt ist, weil er nur auf der Entwicklung des kommunikativen Handwerks liegt. Mit "kommunikativem Handwerk" meine ich die Befolgung von Schritten nach Modellen wie dem WWW-Modell (Wahrnehmung - Wirkung - Wunsch). Bei diesem engen Fokus werden, so meine These, Aspekte ausgeblendet, die essenziell für gelingendes Feedback sind: das Thema, um das es geht und das Ziel, das man angesichts des Themas mit Feedback verfolgt. Das Thema und das Ziel bestimmen aber die Haltung, in der man auftritt; den Ton, den man wählt; und die Art, wie man durch das Gespräch führt, das sich an Feedback anschließt. In der Praxis kann Feedback also unterschiedliche, vom Thema und Ziel abhängige Formen annehmen, auch wenn die in Modellen beschriebene Schrittfolge immer die gleiche ist.
Hier sei noch einmal rekapituliert, welche Zielsetzungen sich bei Feedback unterscheiden lassen:
- Verhalten durch Lob zu stärken oder durch Kritik zu verändern
- Verständigung über kooperatives Miteinander zu schaffen
- Impulse zur Potenzialentfaltung zu setzen
Nachdem ich im letzten Beitrag beurteilendes Feedback zur Stärkung oder Veränderung von Verhalten in den Blick genommen habe, liegt der Schweinwerfer in diesem Beitrag auf verständigungsförderndem Feedback. Verständigung bedeutet hier zweierlei: einerseits den Prozess des Sich-Gegenseitig-Verstehens, also das Ausloten der Bedürfnisse und/oder Interessen, die die Gesprächspartner haben; und andererseits das Zu-Einem-Einverständnis-Kommen, also das Festlegen eines gemeinsamen Wegs zu einem kooperativen Miteinander, der für beide Gesprächspartner passt. Bevor ich detaillierter ausführe, was verständigungsförderndes Feedback ausmacht, möchte ich mich auf beurteilendes Feedback rückbeziehen, um die Unterschiede zwischen diesen beiden Arten von Feedback zu konturieren.
Bei beurteilendem Feedback meldet Person A Person B zurück, ob sie das Verhalten von Person B in einer bestimmten Situation gut oder schlecht findet: Sie hebt oder senkt den Daumen. Dabei hinterfragt Person A ihre Sicht auf die Dinge tendenziell nicht; sie geht davon aus, dass ihre Wirklichkeit objektiv wahr ist - und beansprucht damit, oft unbewusst, Deutungshoheit. Der Anspruch an Deutungshoheit wiederum führt zu einem Gefälle in der Beziehung zwischen A und B; denn indem A eine Setzung dazu macht, was sich ereignet hat und wie das, was sich ereignet hat, zu deuten und zu bewerten ist, stellt sich A über B. Dies hat den Effekt, dass sich B entweder unterordnet und die Setzung akzeptiert oder gegen das Gefälle angeht, um mindestens wieder Augenhöhe herzustellen. Überspitzt formuliert: Bei beurteilendem Feedback geht es - zumindest auch - um Macht: um die Kraft, sich mit seiner Sicht auf die Dinge durchzusetzen.
Ich beschreibe hier die Dynamik, die durch beurteilendes Feedback im sozialen Raum entsteht, bewerte beurteilendes Feedback aber nicht als gut oder schlecht. Es gibt soziale Kontexte, in denen beurteilendes Feedback an der Tagesordnung und legitim ist. So sind in hierarchisch strukturierten Organisationen disziplinarische Führungskräfte qua ihrer übergeordneten Rolle befugt und verpflichtet, beurteilendes Feedback als Form der Rückmeldung einzusetzen. Durch diese Art des Feedbacks zeigen sie den Mitgliedern der Organisation auf, welches Verhalten mit Blick auf das übergeordnete Ganze erwünscht bzw. nicht erwünscht ist - welche Regeln zu befolgen sind, welche Ziele zu erreichen sind, welche Formen von Umgang angemessen sind. Es ist klar: Organisationen können es sich, wenn sie ihren Zweck erfüllen wollen, nicht leisten, dass jeder einfach tut, was er will. Deshalb sind an disziplinarische Rollen immer Entscheidungsbefugnisse geknüpft - und damit auch die Macht, Situationen und das Verhalten von Menschen einzuordnen und Marschrichtungen vorzugeben.
Nun leben wir in einer Zeit, in der die Frage im Raum steht, ob hierarchische Strukturen - und damit die Befugnisse übergeordneter Rollen - dienlich sind, effektiv mit der erlebten Komplexität der Welt umzugehen. Das ist die Story: Es braucht die Intelligenz und Verantwortungsübernahme vieler - weil zu vieles mit zu vielem zusammenhängt und keiner allein mehr den Durchblick hat, auch diejenigen nicht, die in übergeordneten Rollen eingesetzt sind. Wenn die Story in die Praxis übersetzt wird, wie es z. B. im agilen Framework 'Scrum' der Fall ist, erhalten Teams Entscheidungsbefugnisse in einem abgesteckten Rahmen und sind umsetzungs- und ergebnisverantwortlich: Sie dürfen sich kurzfristige Ziele setzen und miteinander festlegen, wie sie die Ziele am besten erreichen. In dieser Hinsicht sind sie 'selbstorganisiert'.
Dies ist nicht der Ort, die Sinnhaftigkeit solcher strukturellen Veränderungen zu hinterfragen. Was ich beleuchten möchte, sind die Implikationen für Feedback auf der Mikro-Ebene bilateraler Interaktionen. In den letzten Jahren durfte ich einige Scrum Teams in ihrer Entwicklung begleiten und habe immer wieder erlebt, dass Feedback in Konstellationen, in denen es keine klaren Verhältnisse von Über- und Unterordnung gibt, ein anspruchsvolles Unterfangen ist. Sicher gibt es in Scrum Teams Rollen, die als Führungsrollen bezeichnet werden können: die Rolle des Scrum Master, der überwacht, ob sich alle im abgesteckten Rahmen bewegen und der gleichzeitig als servant leader eine unterstützende, moderierende Funktion hat; und es gibt die Rolle des Product Owner, der Vorgaben zum Produkt macht, das entwickelt werden soll. Gleichwohl ist hier keiner dem anderen formell VOR-gesetzt; statt Über- und Unterordnung ist Gleichordnung gegeben, was bedeutet, dass die Teammitglieder auf Augenhöhe agieren müssen. Es gilt, gemeinsam im Diskurs zu Entscheidungen zu kommen und ein kooperatives Miteinander zu gestalten. Diskurs und Kooperation fallen aber nicht vom Himmel; sie sind mühevoll, weil sie bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Selbstreflektiertheit zu eigenen Positionen und gleichzeitig die Bereitschaft und Fähigkeit, Perspektiven anderer einzunehmen, erfordern. In solch einem Kontext, so meine These, ist beurteilendes Feedback fehl am Platz: Niemand hat die Deutungshoheit, und wenn jemand die Deutungshoheit für sich reklamiert, entstehen unproduktive Dynamiken, die sich meistens unter und nicht über der Wasseroberfläche äußern. Das kann bestätigen, wer schon einmal mit Softwareentwicklern gearbeitet hat. :-)
Was heißt das nun konkret für Feedback? Menschen in hierarchiefreien Kontexten stehen vor der Herausforderung, ein Muster zu ändern: Feedback nämlich nicht automatisch mit beurteilendem Feedback gleichzusetzen. Das mag trivial klingen, ist es aber nicht. Wie der Hirnforscher Gerhard Roth eindrücklich gezeigt hat, erfolgt bei allem, was wir erleben, in der mittleren limbischen Ebene unseres Gehirns eine emotionale Bewertung, die im Gedächtnis abgespeichert wird. Wir Menschen können also nicht nicht bewerten. Der springende Punkt bei Feedback in hierarchiefreien Kontexten ist nun, in welcher Form die Bewertung kommuniziert wird: ob die Bewertung als Urteil daherkommt, das die/der andere zu akzeptieren und zu befolgen hat; oder ob die Bewertung als subjektives Erleben gerahmt wird, ohne Anspruch auf objektive Wahrheit. Das ist zunächst eine Frage der Haltung, also der inneren Einstellung. Habe ich verinnerlicht, dass ich der/dem anderen auf Augenhöhe begegne und nicht formell legitimiert bin, ihr/ihm Ansagen zu machen? Bin ich bereit, mich von der Vorstellung zu lösen, dass ich recht habe und/oder im Recht bin? Ist mir bewusst, dass meine Sicht meine Sicht ist und die/der andere eine ganz andere Sicht haben kann? Bin ich neugierig auf die Sicht des anderen, und möchte ich sie wirklich nachvollziehen? Bin ich bereit zu erkunden, wie wir unsere Sichten in Einklang bringen und zu einer Verständigung über das weitere Miteinander kommen können? Mit solch einer fragenden statt sagenden Haltung wird Feedback zu einem Instrument, mit dem kooperative Arbeitsbeziehungen gestaltet werden können.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Verständigungsförderndes Feedback bedeutet nicht, das Gegenüber mit Samthandschuhen anzufassen und um den heißen Brei herumzureden. Auch bei dieser Art des Feedbacks geht es darum, der/dem anderen ehrlich zu sagen, wie man die Zusammenarbeit erlebt und was man sich für die Zusammenarbeit wünscht - zum Beispiel, dass die/der andere eine geteilte Arbeitsfläche ordentlich zurücklässt, ihre/seine Zusagen einhält oder im Umgang auf ihren/seinen Ton achtet. Die Frage ist nur, welche Form die Ehrlichkeit nimmt. So ist es hilfreich, wenn man ...
- wirkliche Ich-Botschaften sendet, die das eigene - die eigenen Emotionen, die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Interessen, die eigenen Werte - benennen und in denen nicht mehr oder weniger latente Vorwürfe oder Unterstellungen mitschwingen ("Ich bin verärgert, weil mein Bedürfnis nach Verlässlichkeit nicht erfüllt ist." versus "Ich finde, Du bist unzuverlässig.")
- wirklich einen Wunsch äußert und keine verdeckte Ansage macht - mit der Bewusstheit, dass die/der andere Handlungsspielraum hat und den Wunsch nicht erfüllen muss
- öffnende Fragen stellt um herauszufinden, wie die/der andere zu dem angeschnittenen Thema steht ("Wie hast du die Situation erlebt?", "Inwieweit kannst Du meine Sicht nachvollziehen?", etc.)
Es gilt, Offenheit mit Achtung für das Gegenüber zu paaren – der/dem anderen ihre/seine Würde zu lassen und ihr/ihm zuzugestehen, dass ihre/seine Welt eine andere als die eigene sein kann. So nimmt die Beziehung keinen Schaden; und so steigt die Chance, dass die/der andere das, was sie/er hört, nicht abwehrt, sondern nachvollzieht und bereit ist zu erkunden, wie der gemeinsame Weg nach vorne ausschauen kann.
Als Schlussfolgerungen für die Praxis kann man festhalten:
- Entscheidungsträger in Organisationen sollten im Blick haben, dass strukturelle Veränderungen in Richtung Selbstorganisation Auswirkungen auf die Feedback-Kultur haben.
- Diejenigen, die Feedback geben wollen, sollten sich vergegenwärtigen, in welcher Rolle sie der/dem anderen begegnen - und ob mit dieser Rolle die Befugnis der Beurteilung verknüpft ist.
- Wenn verständigungsförderndes Feedback das Mittel der Wahl ist, sollten diejenigen, die Feedback geben, ...
- nicht davon ausgehen, dass die eigene Wirklichkeit die Wirklichkeit der/des anderen ist!
- die Worte des österreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal im Ohr haben: "(...) in dem Wie, da liegt der ganze Unterschied."!
- ehrlich und gleichzeitig respektvoll kommunizieren! o mit der/dem anderen ergebnisoffen den gemeinsamen Weg nach vorne erkunden!