Gesunde (Selbst-)Führung ist trendy. Als wesentlicher Teil zeitgemäßer Führung wird sie von vielen empfohlen. Doch gibt es dazu auch Fragen, Skepsis und Zweifel…
Führt Gesund Führen nicht dazu, dass man auch da, wo Ranklotzen nötig wäre, vor allem darauf achtet, dass alle nach 8 Stunden pünktlich nach Hause gehen, um noch genügend Feierabendfreizeit zu haben? Ist Gesund Führen nicht eigentlich ein High-Performance-Verhinderungsmittel?
Dieser Frage liegt ein erstaunliches Missverständnis dessen zugrunde, was gesunde Balance ist. Eine gute Balance zwischen verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeit, Freizeitaktivitäten, Sport oder Beziehungspflege besteht nicht darin, dass all diese Dinge an jedem Tage gleichverteilt vorkommen. Das ist weder realistisch noch nötig. Balance stellt sich über längere Zeiträume her. Gerade wenn man sich für eine verantwortliche Rolle in einem komplex-dynamischen Arbeitsumfeld mit nicht selten auch enger zeitlicher Taktung entschieden hat, gehört die Bereitschaft, auch mal deutlich längere und energiefordernde Tage zu absolvieren, zum gewählten Metier mit dazu. Gesunde (Selbst-)-Führung heißt dabei, neben dem Aspekt, auf den Sinn der Arbeit zu achten, dafür zu sorgen, dass es als Ausgleich für die Zeiten des Ranklotzens auch wieder Phasen gibt, in denen persönliche Aktivitäten, Sport, Chillen oder Beziehungspflege im Vordergrund stehen.
Gesund Führen ist also keine Bremse für performanceorientiertes Führen?
Genau. Nicht nur keine Bremse, sondern die Voraussetzung dafür, dass Performance stark und vor allem auch nachhaltig erbracht werden kann. Das funktioniert nämlich nur, wenn Menschen nicht gegen, sondern mit ihrer Energie, nicht gegen ihre grundlegenden Bedürfnisse, sondern im Einklang mit ihnen leben und arbeiten können. Und um möglichst gute Bedingungen dafür zu schaffen, darum geht es bei Gesund Führen.
Das kostet doch aber nicht wenig Zeit, Geld und Aufmerksamkeit…
Korrekt. Nichts ist umsonst. Viel mehr Zeit, Geld und Aufmerksamkeit kostet es allerdings, wenn immer mehr Mitarbeitende langfristig auf dem Zahnfleisch gehen, immer wieder krank werden oder die Firma verlassen, weil die Arbeit sie auslaugt und unglücklich macht.
Klingt plausibel, doch bleibt die Frage: Hat man nicht vor allem dann, wenn es gerade gut und relativ entspannt läuft, Zeit für gesunde Führung oder gesunde Selbstführung? Wenn es aber stressig wird, hat man anderes im Kopf.
Das ist in der Tat ein Risiko. Aber genau deswegen geht es zum einen darum Gewohnheiten gesunder (Selbst-)Führung im Denken und Handeln zu etablieren, die irgendwann quasi automatisch laufen – so wie hoffentlich das Zähneputzen morgens und abends, egal, wie stressig der Tag ist. Und andererseits muss man für sich selbst, aber ebenso auch als Team und Organisation herausfinden, was man, auch wenn es gerade extrem fordernd ist, auf jeden Fall braucht und auch auf jeden Fall tun muss, um energetisch auf Kurs zu bleiben, sozusagen die energetische Basislinie jeder Performanceerbringung. Also wofür muss ich, wofür müssen wir sorgen, egal wie anspruchsvoll die Tage sind: wieviel Stunden Schlaf; welche Art und Dauer von Pausen, welche Art von Ernährung, welche Art und Dauer von Bewegung, aber auch welchen Genuss etc. braucht es, damit die Grundlage für kraftvolle Leistungserbringung möglichst zuverlässig bewahrt wird?
Und all das macht gesunde (Selbst-)Führung aus?
All das und noch viel mehr. Gesundheit ist wie ein Mosaik, das aus sehr vielen unterschiedlichen Elementen besteht. Es gibt nicht den einen Hebel, der aus Führung gesunde Führung macht. Stattdessen sind es viele kleine Aktivitäten, Gewohnheiten oder Rahmenparameter, die zusammenkommen, zum Beispiel: in Meetings auch über das sprechen, was gut gelaufen ist; sich auch dafür interessieren, wie es Mitarbeitenden und Kolleg:innen persönlich gerade geht; gerade auch in Phasen von Druck und Anspannung Pausen machen und sich miteinander etwas Gutes tun; körperliche und geistige Bewegung ins Spiel bringen (zum Beispiel beim Miteinanderreden mal spazieren gehen); auf gesunde, eher pflanzen- als fleischbasierte Ernährung achten; statt reflexartig immer wieder dasselbe Muster zu produzieren (zum Beispiel unter Stress lieber alles Wichtige selbst tun), kurz innehalten, abwägen und dann mit Bezug auf die erwünschten mittel- und längerfristigen Folgen entscheiden; das Gespräch mit einer Person suchen, von der man wiederholt den Eindruck bekommt, dass es ihr nicht mehr gut geht etc.
Gesund Führen bedeutet aber auch zu berücksichtigen, dass nicht alle Menschen zu jedem Zeitpunkt in gleicher Weise leistungsfähig sind. Hier gibt es einfach zahlreiche Unterschiede: Unterschiede konstitutioneller Art, Unterschiede bedingt durch Einschränkungen, wie Behinderungen oder Folgen bestimmter Krankheiten, situationsbezogene Unterschiede etc. Wir wollen und schätzen diverse Teams. Wenn wir das ernst meinen, bedeutet gesundes Führen aber auch, auf die verschiedenen berechtigten Bedürfnisse der Teammitglieder so einzugehen, dass möglichst für jeden Bedingungen entstehen, dass er oder sie in persönlich bestmöglicher Weise performen kann. Gesund Führen heißt definitiv nicht, alle über einen Kamm scheren, sondern individuell wahrnehmen und achtsam handeln.
Hinter alledem steht dabei als Fundament die klare und konsequente Bereitschaft, ernsthaft und systematisch für Gesundheit, Wohlbefinden und gute Energie aktiv zu werden – für dich selbst und für diejenigen, mit denen du zusammenarbeitest.
Geht es nicht bei Gesund Führen primär mal um die anderen?
So wie niemand andere Menschen gut führen kann, der sich nicht selbst gut führen kann, so kann auch niemand andere gesund führen, der sich nicht selbst gesund führen kann. Wenn ich selbst absolut im roten Bereich toure, dann kann ich noch nicht einmal wahrnehmen, wie es meinen Mitarbeitenden wirklich geht, geschweige denn, dass ich mich gut um sie kümmern könnte. Mein System ist dann in einem schon physiologisch determinierten Stress- und Überlebenskampfmodus, der immer auch mit einem mein Wahrnehmungsfeld einschränkenden Tunnelblick einhergeht. Außerdem bin ich – ob ich will oder nicht – als Führungskraft immer auch Vorbild für meine Mitarbeitenden. Wenn ich mich selbst über alle Grenzen hin ausbeute, werde ich kaum als Modell für gesunde Führung taugen.
Umgekehrt wird aber ein Schuh daraus: Wenn ich mich in vernünftiger und hilfreicher Weise um mein eigenes Wohlergehen und meine eigene Gesundheit kümmere, habe ich nicht nur mehr Antennen für das Befinden meiner Mitarbeitenden, sondern ich habe auch mehr Klarheit, Kraft und Kreativität, um herausfordernde Situationen zu meistern und nachhaltig zielführend und das heißt gesund zu führen.
Verhindert Gesund Führen denn die Entstehung von Krankheiten?
Sicher nicht grundsätzlich. Krankheiten gehören zum Leben dazu, und manche ereilen einen auch einfach, ohne dass man irgendetwas dagegen tun könnte. Gesunde (Selbst-)Führung erhöht aber signifikant die Wahrscheinlichkeit, dass gesundheitliche Risiken früher erkannt werden und man hilfreich gegensteuern kann; dass unsere Fähigkeiten im Umgang mit Belastungen zunehmen, also unsere Resilienz wächst; dass wir erfahrener und professioneller darin werden, uns und anderen in schwierigen Situationen zielorientierte Unterstützung zu organisieren und dass in der Tat auch manche Risiken schon präventiv abgewendet werden können. Gleichzeitig wird unser Wohlbefinden gestärkt, da Gesundheit und Wohlbefinden nun mal Hand in Hand gehen. Und das heißt auch: wir sind einfach besser drauf – bei der Arbeit und überhaupt.