29. Juni 2022

Selbstmitgefühl - was ist das eigentlich?

Mitgefühl kennen wir vor allem als etwas, das wir anderen, die sich in schwierigen oder bedrohlichen Situationen befinden, entgegenbringen. Mitgefühl ist dabei eine Form der Empathie, die sich angesichts unserer Wahrnehmung des Leids anderer zumeist ganz von selbst einstellt. Uns selbst gegenüber sind wir im Zustand von Schmerz und Leid allerdings oft anders drauf. Manche Menschen gehen vor allem, wenn sie glauben, mit einem eigenen Versagen konfrontiert zu werden, hart mit sich ins Gericht. „Du Looser! Du kriegst es mal wieder nicht hin! Du wirst es nie schaffen!“ sind dann längst noch nicht die unfreundlichsten Kommentare der Selbstverurteilung. Gleichfalls gängige Reaktionen auf Momente von Schmerz und Leid sind Flucht und Verdrängung oder – bei Männern häufiger als bei Frauen – die aggressive Wendung gegen einen vermeintlich äußeren ‚Schuldigen‘ in Form von Ärger, Wut, Zorn etc.

Verständlich sind all solche Reaktionen insofern, als wir evolutionär so gebaut sind, dass wir Schmerz und Leid auf jeden Fall vermeiden wollen. Auch der natürlich schmerzhafte innere Kritiker dient in dieser Hinsicht der Schmerzvermeidung, da seine harschen Urteile ja implizieren, worauf man gefälligst zu achten habe, um nicht „schon wieder“ einen solchen „Schlamassel“ zu produzieren. Erbarmungslose Selbstkritik, Flucht oder aggressive Projektion sind also, wenn wir uns als leidend erleben, psychologisch nachvollziehbar. Hilfreich sind sie allerdings kaum.

Schon Aristoteles wusste, dass unser Verhalten gegenüber anderen letztlich aus unserem Verhalten gegenüber uns selbst resultiert und dass Selbstliebe und Selbstfreundschaft die Grundlage für echte Liebe und Freundschaft zu anderen sind. Trotzdem fällt es vielen Menschen (noch) viel schwerer, sich selbst als anderen gegenüber ein guter Freund und Liebender zu sein. Genau darum aber geht es nun beim Selbstmitgefühl. Statt in Situationen, in denen man Schmerz und Leid empfindet, mit sich selbst oder anderen dafür ins Gericht zu gehen, bedeutet Selbstmitgefühl, sich der eigenen Situation und besonders den Gefühlen, die man darin hat, verständnisvoll und fürsorgend zuzuwenden: sich selbst also, wie es ein guter Freund tun würde, zu unterstützen.

Ausgehend von mehrjährigen buddhistischen Meditations­erfahrungen und anschließend an die psychologischen Arbeiten von Paul Gilbert hat besonders die amerikanische Psychologin Kristin Neff das Konzept des Selbstmitgefühls konkretisiert und für die Arbeit in (Selbst-)Coaching, Beratung und Therapie fruchtbar gemacht. Nach Neff sind es dabei drei Faktoren, die Selbstmitgefühl ausmachen: selbstbezogene Freundlichkeit, verbindende Humanität und achtsame Wahrnehmung.

Selbstfreundlichkeit bedeutet, mit sich selbst verständnisvoll, freundlich und wertschätzend umzugehen. Neff ist es wichtig, den Unterschied zwischen Selbstfreundlichkeit bzw. Selbst­wert­schätzung und Selbst­wert­gefühl zu betonen. Beim Selbstwertgefühl messen wir uns an Maßstäben wie Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Tugendhaftigkeit, Sportlichkeit, Attraktivität, die wir immer auch im Vergleich zu anderen sehen. Unser Selbstwertgefühl steigt daher gerade dann, wenn wir uns besser als andere finden und es sinkt, wenn wir denken, dass wir nach wichtigen Maßstäben zu schlecht im Vergleich zu anderen abschneiden. Das Streben nach einem möglichst hohen Selbstwert kann daher ausgesprochen druckvoll werden. Demgegenüber bedeutet Selbst­werts­chätzung sich genauso wertzuschätzen, wie man ist: mit allem, was einen an Stärken und Schwächen, an mentalen, körperlichen oder sozialen Merkmalen ausmacht. Und Selbstfreundlichkeit bedeutet, auf der Basis von Selbst­wert­schätzung gerade auch in schwierigen Situationen wohlwollend mit sich umzugehen.

Verbindende Humanität andererseits meint das Bewusstsein, dass Schmerz und Leid zum Leben dazugehören, und dass wir, gerade auch wenn wir leiden, mit anderen Menschen und ihrem Leid verbunden sind. Achtsamkeit schließlich zielt darauf, alle unsere Sinneseindrücke, Empfindungen, Gefühle, Gedanken gleichrangig wahrzunehmen, ohne sie zu ignorieren, zu verdrängen oder uns in sie hineinzusteigern. Es geht darum, das, was jetzt da ist – und von dem wir wissen, egal wie gut oder schlecht es uns erscheint, dass es auch wieder vergeht – bewusst wahrzunehmen. Sich um Selbstfreundlichkeit, Verbundenheit und Achtsamkeit gleicher­maßen zu kümmern, heißt dann insgesamt, sich um Selbst­mitgefühl zu kümmern.

Selbstmitgefühl bedeutet dabei keinesfalls, sich Dinge, die man eigentlich negativ findet, schönzureden. Abgesehen davon, dass das nur in den seltensten Fällen klappt, wäre es auch eher das Gegenteil davon, sich empathisch der eigenen Befindlichkeit zuzuwenden. Mit Selbstmitgefühl werden die negativen Emotionen – Ärger, Frustration, Enttäuschung, Trauer, Wut, Zorn, Neid oder was immer es ist – verständnisvoll und fürsorglich angenommen: „Das ist jetzt eine schmerzliche Situation. Ich verstehe, dass Du so enttäuscht bist; denn es wäre Dir so wichtig gewesen, wenn … und Du hattest innerlich ja auch schon sehr darauf gehofft, dass … Was würde Dir denn jetzt guttun? Was könntest Du machen, damit es Dir wieder ein wenig besser geht …?“ Im Zustand des Selbstmitgefühls entsteht tatsächlich etwas Positives; aber das entsteht nicht dadurch, dass negative Empfindungen wie auf Knopfdruck verdreht werden sollen, sondern dadurch, dass eine selbst-freundschaftliche, fürsorgliche Haltung diesen Empfindungen hilfreich begegnet.

Selbstmitgefühl ist also eine ganz besondere Qualität des inneren Dialogs, den wir mit uns in schmerzgeprägten Situationen führen. Kristin Neff weist in dem Zusammenhang auf eine Parallele zu Marshall Rosenberg, dem Autor des psychologischen Klassikers „Gewaltfreie Kommunikation“ hin. Rosenberg betont, dass wir, um in Frieden mit uns selbst zu leben, in unseren inneren Dialogen Mitgefühl mit unseren menschlichen Grundbedürfnissen zum Ausdruck bringen sollten. Er empfiehlt für schwierige Situationen vier einfache Fragen:

  1. Was beobachte ich?
  2. Was empfinde ich?
  3. Was brauche ich in diesem Moment?
  4. Habe ich eine Bitte an mich selbst oder jemand anders?

Auch wenn wir erkannt haben, wie hilfreich Selbstmitgefühl für den Umgang mit uns selbst, aber dadurch auch für unseren Umgang mit anderen ist, gibt es keinen Schalter, mit dem wir unsere Selbst-Dialoge ab jetzt konstant mit Selbstmitgefühl illuminieren könnten. Wir können uns aber um eine selbstmitfühlende Haltung immer mehr und immer wieder bemühen; und natürlich können wir eine solche Haltung auch üben.

In ihrem Buch, das auch den Titel „Selbstmitgefühl“ trägt, skizziert Kristin Neff zahlreiche Übungen, um das Selbstmitgefühl bei sich weiterzuentwickeln. Dazu gehört zum Beispiel „Sich selbst in den Arm nehmen“ (Neff, 2012, S. 70). Das meint, sich in schmerzvollen Situationen sanft den Arm oder das Gesicht zu streicheln oder den eigenen Körper zu wiegen. Dazu gehört auch die Drei-Stühle-Übung (Neff, 2012, S. 54 ff.): Zu einem Thema, das bei einem selbst oft starke Sorgen oder Selbstkritik auslöst, stellt man drei Stühle auf: einen für den inneren Kritiker, einen für den Kritisierten und einen für den mitfühlenden Beobachter. Man setzt sich dabei jeweils auf den Stuhl der Stimme, die gerade laut sprechen soll. Der Kritiker äußert dann in Wortwahl, Tonfall und Körperhaltung seine harsche Kritik; der Kritisierte sagt, was das emotional in ihm auslöst und der mitfühlende Beobachter bringt, nachdem der Dialog der beiden anderen eine Weile gelaufen ist, zum Ausdruck, welche nachvollziehbaren Reaktionen und guten Bestrebungen er bei jedem der anderen wahrnimmt. Zu den Übungen gehört auch, den „Trickster des Selbstwertgefühls“ zu identifizieren (Neff, 2012, S. 205 f.), ein „Mitfühlender Körperscan“ (Neff, 2012, S. 174 f.) und vieles mehr, was unser Bewusstsein für die fördernden und behindernden Faktoren für das Mitgefühl, das wir uns selbst entgegenbringen, trainiert.

Letzten Endes geht es bei der Entwicklung von Selbstmitgefühl um persönliches Wachstum: nicht um das Wachstum, besser zu sein als …, sondern um das Wachstum, das dadurch entsteht, das wir unsere Potenziale freier entfalten können, indem wir uns auch mit unseren Schwächen versöhnen.

Literatur:

Neff, Kristin (2012): Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. Kailash Verlag

Rosenberg, Marshall B. & Holler, Ingrid (2016): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junfermann Verlag

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


Individuelle Beratung unter +49 69 9399677-0 oder info@metrionconsulting.de

Es muss unsere Aufgabe sein, uns selbst aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis unseres Mitgefühls erweitern, damit es alle Lebewesen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umfasst.