29. Juli 2022

LGBTIQ+ Coaching

Veränderungen und Konstanten in Themen und Dynamiken

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in queer.de.

Die Fragen und Themen, die Menschen in einem Coaching besprechen, sind immer auch Spiegel der Kultur und der Welt, in der sich die Menschen bewegen. Fragen und Themen, die queere Menschen in ein Coaching führen, verraten also immer auch einiges darüber, wie Welt und Umwelt für queere Menschen sind.

Da ich selbst als Coach arbeite und seit über 25 Jahren dabei immer wieder auch queere Klient*innen habe, hat mich die Frage beschäftigt, inwieweit sich Fragestellungen und Dynamiken im Coaching von queeren Menschen wohl im Laufe der Zeit geändert haben. Dazu habe ich – ohne jeden Anspruch auf empirische Repräsentativität – Gespräche mit anderen Coach*es, Wissen­schaftler*innen und Führungs­kräften geführt, um zu sehen, ob Veränderungen und Konstanten, die ich selbst wahrnehme, auch von anderen ähnlich erlebt werden. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Frage nach Entwicklungen im berufsbezogenen Coaching.

Nicht überraschend angesichts der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, aber doch erwähnenswert ist zunächst das von faktisch allen Gesprächspartner*innen erwähnte Phänomen, dass Queerness, insbesondere Homosexualität, als Karrierebremse heutzutage im Vergleich zu vor etwa 10, 15 oder 20 Jahren signifikant weniger ein Thema im Coaching ist. Ausnahmen bestätigen hier natürlich die Regel.

Insgesamt ist der Umgang mit queerer – hier im Sinne von LGBTIQ+ gemeinter – Sexualität und Identität auch in Arbeitsumfeldern deutlich offener und entspannter geworden. Haben früher viele Coachingklient*innen oft noch einen längeren Anlauf nehmen müssen, um überhaupt ihrem Coach anzuvertrauen, dass sie nicht hetero oder cis seien, um sogleich nach dieser Offenbarung mit großer Emphase daraufhin zu weisen, dass das nun aber auf keinen Fall jemand in ihrem beruflichen Umfeld erfahren dürfe, so ist heutzutage ein hohes Maß an kommunikativer Direktheit entstanden, das sich auch in scheinbar unscheinbaren alltäglichen Situationen mit Arbeitskolleg*innen zeigt.

In meinem eigenen Erfahrungsumfeld sind dafür persönliche Kommunikationen zwischen einander bislang unbekannten Arbeitskolleg*innen in Veranstaltungszusammenhängen ein sprechendes Beispiel: Haben früher zum Beispiel in Vor­stellungs­runden die meisten in Hinblick auf ihre persönliche Situation so etwas gesagt wie, sie wären verheiratet und hätten so-und-so-viele (zumeist zwei) Kinder, während einige wenige zu ihrer Situation in Hinblick auf Familie und Partnerschaft einfach geschwiegen haben, so machen heutzutage nicht wenige oft gleich in der Anfangsphase eines kollegialen Kennenlernens klar, dass sie etwa als Mann mit seinem Mann oder als Frau mit ihrer Partnerin zusammenleben.

Unterstützt wird eine solche Offenheit in Berufskontexten durch zahlreiche Diversity-fördernde Maßnahmen, wie sie heutzutage in faktisch allen Großunternehmen und auch bei nicht wenigen Mittelständlern stattfinden. Unternehmensinterne LGBTIQ+ Netzwerke oder die aktive Beteiligung an CSDs sind hier mittlerweile schon fast ein Standard geworden. Darüberhinausgehende Maßnahmen, wie zum Beispiel ein LGBTIQ+ Mentoring-Programm, wie es das etwa in der Allianz Gruppe gibt, die 2021 auch den 1. Platz im Pride Index der UHLALA Group gewonnen hat, unterstützen solche Entwicklungen weiter.

So ist es wenig verwunderlich, wenn, wie etwa Stephanie Dickes, Fachbereichsleiterin People Management in der Allianz betont, in der Organisation ein hohes Maß an Offenheit und Akzeptanz für LGBTIQ+ besteht. Allerdings, so stellt Stephanie Dickes weiter fest, scheinen in der Belegschaft bis hin zum mittleren Management mehr Menschen bereit zu sein, sich frank und frei als queer zu zeigen. Zwar gibt es auch auf den hohen Managementebenen einzelne, die unmissverständlich ihre nicht-heterosexuelle Orientierung kommunizieren, aber auch heute noch scheint es so zu sein: je höher der hierarchische Level, desto vereinzelter wird eine solche Haltung. Auch scheint es für viele oft nicht ganz einfach zu sein, die Dinge beim Namen zu nennen und auch mal Worte wie „lesbisch“, „schwul“ oder „bisexuell“ in den Mund zu nehmen. Sicherer fühlt man sich dann, wenn man allgemein von „Diversity“ spricht.

Der Grad an Offenheit ist also nach wie vor ein Thema – für die Betroffenen allerdings eines mit direkten Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden. Darauf weist Dominic Frohn, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Diversity und Antidiskrimierungsforschung, IDA, und Professor für Wirt­schafts­psychologie an der Hochschule Fresenius in Köln mit Bezug auf seine Studienreihe „Out im Office?!“ hin: „Einige LGBTIQ+ Personen gehen am Arbeitsplatz nicht offen mit diesen Identitäts­dimensionen um, was erhebliche Auswirk­ungen auf die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit hat – umgekehrt geht ein offener Umgang mit einer höheren Arbeitszufriedenheit, mehr freien Ressourcen und einem höheren Commitment einher. Also, der Umgang mit der eigenen Identität ist auch 2022 am Arbeitsplatz noch ein Thema.“

Gekoppelt sind Fragen zur eigenen Identität und dem Umgang damit immer auch an die eigene Biographie. Biographiearbeit spielt faktisch für jedes substanzielle Coaching eine Rolle. Im Coaching queerer Menschen scheint dies jedoch, wie etwa der in der Nähe von Zürich lebende Coach Marcel Sonderer, der sich mit seiner Firma QUEERwegS dezidiert an queere Menschen wendet, betont, eine noch größere und wichtigere Rolle einzunehmen. Darin liegt nun allerdings nicht nur ein mögliches Themen- oder Problemfeld, sondern zugleich auch eine potenziell wichtige Ressource, wie Dominic Frohn hervorhebt, indem er es charakteristisch für das Coaching von LGBTIQ+ findet, „dass es eben wenigstens ein selbstkonzeptrelevantes und für viele (zumindest über bestimmte Lebensphasen) auch sehr bedeutsames Thema mehr gibt im Leben von LGBTIQ+ Klienten*innen. Unter ressourcenorientierter Perspektive können wir hier – auch anhand der Forschung belegt – festhalten, dass diese Personengruppen mindestens eine biografische Krise bzw. Entwicklungsaufgabe mehr zu bewältigen hatten. Dies führt dazu, dass bei gelungener Integration potenziell von spezifischen intrapersonalen Fähigkeiten, wie z.B. Resilienz, oder auch interpersonalen Kompetenzen (z.B. Kommunikations­fähigkeiten) oder auch Gender- und Vielfaltskompetenzen auszugehen ist. Dies können also besondere Ressourcen für die Personen selbst im Umgang mit weiteren herausfordernden Lebensereignissen sein, gleichzeitig sind diese Kompetenzen und Fähigkeiten für die Arbeitgeber*innen durchaus auch interessant.“

Der gemeinsame Bezug auf die biographische Bewältigung queerer Identitätsfindung ist neben der genuinen Kenntnis queerer Lebenswelten auch ein wichtiger Grund, warum LGBTIQ+ im Coaching bevorzugt queere Coach*es aufsuchen. Dies gilt in sehr hohem Maße, wenn es um persönlich-private Themen wie Partnerschaft, Liebe, Identität und Sexualität geht. Dies gilt aber auch, wenn der Fokus auf beruflichen Themen liegt, da auch sie fast nie frei von wichtigen Bezügen zur eigenen biographischen Prägung und damit auch zur eigenen sexuellen Orientierung und Identität sind. Queere Klient*innen öffnen sich gegenüber queeren Coach*es, wie Marcel Sonderer und der in Düsseldorf lebende Coach Markus Klemm betonen, besonders schnell und intensiv. Dies kommt dem Coachingprozess, was immer genau die Schwerpunktthemen sein mögen, grundsätzlich zu Gute – eine Beobachtung, die ich selbst auch schon vor gut fünf Jahren in dem Beitrag „Homosexualität im Job. Brauchen queere Menschen einen queeren Coach?“ als signifikantes Phänomen feststellen konnte.

Die Hitliste der Themen, um die es gerade im berufsbezogenen Coaching queerer Menschen geht, ist dabei derjenigen von heterosexuellen Coachingkund*innen durchaus ähnlich. Zumeist geht es um Dinge wie persönliche Standortbestimmung, Selbstführung, Führung, Businessgründung, Kom­petenz­erweiterung und persönliche Balance – fast immer aber eben mit starkem Bezug auf die queere Identität und Lebenswelt. 

Ein deutlicher Unterschied im Vergleich zum Coaching heterosexueller Menschen scheint nun allerdings, wie Marcel Sonderer und Markus Klemm betonen, zu sein, dass insbesondere für jüngere schwule und bisexuelle Männer durch die hochfrequente Nutzung von Dating Apps und sozialen Netzwerken wie Instagram ein Druck entsteht, der aus dem Vergleich des eigenen Äußeren mit dem von als hoch-attraktiv erlebten anderen entsteht. Hier geht es dann, wie Marcel Sonderer sagt, oft um Fragen von Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und un­ver­krampfter Interaktion, die in alle Lebensbereiche hinein aus­strahlen.

Als Résumé der kollegialen Befragung lässt sich festhalten: Auch wenn im berufsbezogenen Coaching queerer Menschen der Aspekt Queerness als Karrierebremse heutzutage glücklicherweise eine ungleich geringere Rolle spielt als vor 10, 15 oder 20 Jahren, ist der Bezug zur queeren Identitätsfindung und Lebensform doch nach wie vor ein zentraler Aspekt im LGBTIQ+ Coaching, selbst wenn es um Themen geht, die sich auf den ersten Blick gar nicht von denen im Coaching heterosexueller Menschen unterscheiden. Man darf gespannt sein, was es in einem solchen Zusammenhang in 10, 15 oder 20 Jahren zu sagen gibt – angesichts des Umstands, dass Coaching eben immer auch Entwicklungen und Dynamiken der Gesamtgesellschaft abbildet.  

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


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Kein Coachinggespräch gleicht dem anderen. Effektives Coaching erfordert in jedem Moment situatives, nicht schematisches Agieren und Reagieren.

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting