15. April 2004

Mikropolitik im Unternehmen

1.         Was bedeutet Mikropolitik?

Unter Mikropolitik ist (in Anlehnung an Oswald Neuberger) das Arsenal an persönlichen Strategien, Taktiken und Techniken zu verstehen, mit deren Hilfe Macht und Einfluss eingesetzt und ausgebaut wird, um individuelle Ziele zu erreichen. Dabei kann es sich beispielsweise um die Sicherung von Ressourcen handeln, um die Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums oder um das sich Entziehen aus fremder Kontrolle.

Mikropolitik setzt bei Entscheidungsprozessen in Organisationen an und beeinflusst diese interessensbezogen.

2.         Mikropolitik in Unternehmen

Mikropolitik hat allgemein einen schlechten Ruf. Oft gilt sie als Ausdruck egoistischer Einzel- und Sonderinteressen, deren Durchsetzung die Qualität von Entscheidungen verwässert und allgemein Effizienz wie Effektivität der Organisation beeinträchtigt. Nichtsdestotrotz hat Mikropolitik offenbar an Bedeutung gewonnen. Sie ist heute so wichtig geworden, dass sie als Thema nicht in irgendeine Schmuddelecke, sondern in das Licht der Unternehmens-öffentlichkeit gehört.

Während ein Übermaß an Mikropolitik dabei natürlich schädlich ist für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens, scheint Mikropolitik an sich gleichzeitig unvermeidbar und bei mittlerer Intensität auch notwendig und funktional zu sein. Zu wenig oder gar keine Mikropolitik wäre dementsprechend eher ungünstig.

Der zu beobachtende Bedeutungszuwachs von Mikropolitik lässt sich vor allem auf die großen Veränderungsprozesse der letzten Jahre zurückführen. Diese wurden und werden fast immer begleitet von mehr oder weniger heftigen Verteilungskämpfen (um Geld, Bedeutung, Status, Einfluss, Entwicklungs-chancen, ...), die eher verdeckt als offen und transparent stattfinden. Mikropolitik gelangt unter solchen Bedingungen zur vollen Blüte. Dabei entzieht sie sich gerne der öffentlichen Diskussion, wirkt eher im Verborgenen, ist aber hinter den Kulissen überaus präsent. Entscheidungen, die offiziell rein sachlich und systematisch getroffen worden sind, resultieren dann in Wirklichkeit oft aus Machtkämpfen. Manchmal handelt es sich auch um mehr oder weniger faule Kompromisse, denen Aushandlungsprozesse nach den klassischen Regeln der Diplomatie vorausgingen.

Moderne Organisationsstrukturen bilden einen guten Nährboden für alle Formen der Mikropolitik. In den letzten Jahren sind die Autonomiespielräume der meisten Menschen deutlich gewachsen. Sie haben dadurch heute größere Entscheidungsbefugnisse als das früher der Fall war. Gleichzeitig verlieren traditionelle Orientierungsgrößen ihre handlungsleitende Funktion. Die Regelungsdichte sinkt, manche lange beschworenen Sachzwänge weichen auf, liebgewordene Routinen, Traditionen, Werte und Denkgewohnheiten verlieren ihre Relevanz und damit ihre Kraft. Führung könnte diese Lücken prinzipiell schließen, was sie tatsächlich jedoch oft nicht vermag, so dass es beim lauten Rufen nach ‚Leadership’ bleibt. Während also traditionelle Orientierungs- und Steuerungsgrößen ihre Wegweiserfunktion teilweise einbüßen, werden die Hintergründe und Kontexte der zu treffenden Entscheidungen immer komplexer.

Die in Ausbildungsinstitutionen oft ausgesprochene Forderung nach Objektivität und Rationalität im Entscheidungsverhalten lässt sich aber ohnehin nicht aufrecht erhalten, z.B. deshalb, weil es harte Grenzen für die menschliche Informationsaufnahme und –verarbeitung gibt. Unvollständiges Wissen über die herrschenden Ausgangsbedingungen, über die prinzipiell möglichen Entscheidungsalternativen sowie über deren Folgen und Nebenwirkungen machen es in vielen Fällen unmöglich, eine bestimmte Alternative zu identifizieren, die allen anderen objektiv überlegen ist und den höchsten Beitrag zur Zielerreichung des Unternehmens liefert. Wenn also ‚objektiv richtige’ Entscheidungen zugunsten des Unternehmens nur unter theoretischen Bedingungen möglich sind, müssen die Menschen Ermessensentscheidungen treffen. Und diese werden in den allermeisten Fällen interessensgefärbt sein. Wer zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen hat, die alle Vor- und Nachteile haben und von denen keine die eindeutig beste ist, warum sollte der sich nicht für diejenige entscheiden, die nebenbei auch seinen persönlichen Interessen am nächsten kommt?

Das Verschwinden traditioneller Wegweiser führt also zu Steuerungslücken, die durch individuelles Entscheidungsverhalten aufgefüllt werden müssen. Hierin liegt die positive Funktion von Mikropolitik. Handlungskontinuität bleibt durch sie erhalten, uneindeutige und inkonsistente Ziele oder Mittel können abgepuffert werden, Widersprüchliches und Mehrdeutiges kann darüber hinaus zu originellen und innovativen Lösungen führen. Nicht zuletzt sind Entscheidungen leichter durchsetzbar, weil sie weniger endgültig erscheinen.

Das Miteinander und Gegeneinander von Einzelinteressen kann, muss aber nicht zu Lasten des Ganzen gehen. Menschen lernen die voraussichtlichen Hand-lungen ihrer ‚Mitspieler’ einzuschätzen und dadurch die Dynamik des Gesamt-systems (in das ja alle eingebunden sind) zu verstehen. Über mehr oder weniger systematische Versuchs- und Irrtumsprozesse kann das mikropolitische Zusam-menspiel aller Beteiligten durchaus zu überlegenen Gesamtlösungen führen, ähnlich wie es die liberale Wirtschaftstheorie für freie und konkurrenzhafte Märkte postuliert. Die ‚unsichtbare Hand‘ von Adam Smith lässt freundlich grüßen!

Natürlich gehen in der Praxis manche interessensgefärbten Entscheidungen deutlich und von vornherein absehbar zu Lasten des übergeordneten Ganzen. Das ist ein Hinweis darauf, dass Mikropolitik nicht nur positiv zu bewerten ist. ‚Marktversagen’ gibt es auch hier. Als ein Korrektiv bietet sich immerhin das erwähnte Postulat der Sachrationalität an. Sie ist ein natürlicher Gegenspieler der Mikropolitik und kann, wenn sie auch nicht zu 100 % funktionieren wird, als Leitfiktion dienen, um die betriebliche Realität daran zu messen. Auf jeden Fall wäre damit eine erste Schranke gesetzt.

Wenn Mikropolitik überbordert, stellen sich unverkennbar unproduktive Folgen ein. Ein Großteil der allgemeinen Aufmerksamkeit wird von ihr absorbiert und, schlimmer noch, Vertrauen wird zerstört. Wenn ständig alle möglichen Vorkommnisse auf ihre vermeintlichen mikropolitischen Hintergründe untersucht werden, entwickelt sich die Spekulation zum Volkssport. Der ‚Absicherungs-aufwand’ jedes einzelnen steigt und auf trickreiche Weise erfüllen sich negative Prophezeiungen ganz von selbst. Am Ende glaubt niemand mehr in der Organisation irgendjemandem irgend etwas. Misstrauen und permanente Kontrollen ersetzen verloren gegangenes Vertrauen. Alle haben verloren.

Davor schützen kann das offensive Bearbeiten mikropolitischer Themen. Wenn Führungskräfte und andere Organisationsmitglieder geschult sind im Erkennen von mikropolitischen Prozessen, im Abschätzen von Handlungskonsequenzen, im Erkennen eigener und fremder Macht- und Einflussressourcen, dann handeln sie weniger naiv und lassen sich weniger leicht von interessierter Seite instrumentalisieren. Verdeckte Manöver gelingen nicht mehr ohne weiteres, und die Wirksamkeit derjenigen, die tatsächlich etwas zu sagen haben, steigt.

Zu den möglichen Lernzielen müsste u.a. das Verstehen der wichtigsten mikropolitischen Einflussstrategien sowie der ‚beliebtesten’ Taktiken und Techniken gehören. Zu unterscheiden wären dabei kooperative und unproblematische Formen wie Überzeugungsprozesse, offene Tauschgeschäfte, persönliche Imagearbeit, aber auch kritischere Formen wie das gezielte Ausnutzen guter Beziehungen ‚nach oben’, die Monopolisierung exklusiver Informations- und Wissensquellen, das bewusste Einschmeicheln, die Bildung von verdeckten Koalitionen und Interessensgemeinschaften. Günstig wäre es auch, über unfaire bis brutale Methoden Bescheid zu wissen. Hier ist etwa an die manipulative Herbeiführung von Gegengeschäften zu denken (unterschwellig dafür sorgen, dass der andere mir gegenüber in Schuld steht, ich bei ihm also etwas gut habe) oder auch an bewusst verzerrte Wirklichkeitskonstruktionen, wie es z.B. bei der Abfassung von Protokollen immer wieder vorkommt. Zur ‚höheren Kunst’ der Manipulation gehört bekanntlich die gezielte Beeinflussung von Definitionen darüber, was gerade geschieht und was geschah. Von noch größerem Kaliber sind Intrigen, gezielte Stimmungsmache, Gerüchtebildung, Rufmord. Daneben gibt es bisweilen sogar Beispiele aus der Unternehmens-praxis, die man sonst nur aus Mafiafilmen kennt: Erpressung, Einschüchterung, Korruption.

Mikropolitische Prozesse beziehen ihre Energie aus der Konfliktdynamik, die sich aufgrund der Unterschiedlichkeit von Zielen und Vorstellungen der handelnden Akteure ergibt, bei gleichzeitig vorhandener wechselseitiger Abhängigkeit. Ihre besondere Ausformung erhalten mikropolitische Prozesse durch die gegebene Machtverteilung und die Wichtigkeit der infrage stehenden Ressourcen oder des Problems aus der Perspektive der einzelnen Parteien.

Eine allgemeine Sensibilisierung für das Thema sowie spezifische Qualifizierungsmaßnahmen können helfen, mögliche Auswüchse von Mikropolitik einzudämmen. Egoistisches Verhalten hat es schwerer, wenn ein allgemein kooperatives Klima vorherrscht. Dafür müssen jedoch organisatorische Vorkehrungen getroffen werden, es entsteht nicht selbstverständlich und von allein. Kultur muss gepflegt, immer wieder neu bestätigt und situativ weiter entwickelt werden. Dialogforen bieten sich u.a. als bewährte Mittel dafür an.

Im Umgang mit Mikropolitik empfehlen sich generell Achtsamkeit, aber auch Gelassenheit. Mikropolitik ist ein fester Bestandteil unserer Realität und in zivilisierter Form sogar nützlich. Ungezähmte Mikropolitik stellt dagegen ein beträchtliches Risiko dar. Es könnte deshalb sinnvoll sein, neben den bekannten Unternehmenswerten wie Mission, Vision und Führungsgrundsätze einen speziellen Ehrenkodex zu etablieren, einen „Code of Ethics“, der Grenzen markiert, allzu egoistisches Verhalten ächtet und auch Sanktionen wie Beförderungsstopp, Gehaltseinbußen oder Herabstufungen begründet. Dieser „Code of Ethics“ könnte zu einem Bestandteil der Corporate Governance werden.

 

3.         Aus dem Arsenal der Mikropolitik

3.1.     strukturelle Durchsetzungskraft von Akteuren

Die strukturelle Durchsetzungskraft mikropolitisch handelnder Akteure hängt wesentlich ab von

  • ihrem Tausch- oder Sanktionspotenzial (was hat der Betreffende zu bieten bzw. womit kann er andere bestrafen?)
  • ihrer Wichtigkeit und Ersetzbarkeit (was wäre verloren, wenn er ausfiele?)
  • Ihrer Zentralität im Strom des Informationsaustausches und der Entscheidungsfindungsprozesse (wie gut ist er „im Bilde“ bzw. wie vernehmlich ist er „auf Sendung“?)
  • ihren Zuschreibungen durch Dritte bzw. ihrem persönlichen Image (was traut man ihm generell oder spezifisch zu?)

3.2.     Mikropolitische Hauptstrategien

Allgemeine Beeinflussungsstrategien sind Überzeugung und Motivation der Entscheidungsträger, Manipulation und Zwang. Unter- oder Teilstrategien sind vor allem:

  • Andocken bei relevanten Personen und sie überzeugen,
  • Tauschgeschäfte anbieten,
  • für gutes Image bei den Mächtigen und Einflussreichen sorgen,
  • Koalitionen und Interessensgemeinschaften schmieden,
  • aktiv an Wirklichkeitskonstruktionen (mit-) arbeiten,
  • mittels guter persönlicher Beziehungen die Hierarchie einschalten,
  • zwingen bzw. einschüchtern,
  • Gegengeschäfte manipulativ herbeiführen,
  • Gerüchte lancieren, Stimmung machen, Intrigen inscenieren.

3.3.     Verbreitete mikropolitischen Taktiken und Techniken:

  • Möglichst unauffällig und mit kleinen Interventionen steuern. Mikropolitik wirkt gut im Verborgenen.
  • Auf das richtige Timing achten. Günstige Gelegenheiten ergeben sich oft kurzfristig, vieles ist Zufall und das Blatt kann sich wenden.
  • Darauf achten, dass die ‚richtigen‘ Leute zu den Entscheidungssitzungen kommen (oder gerade nicht) und sie möglichst vorher schon kontaktieren (‚briefen‘). In diesem Zusammenhang:
  • Einladungen so verfassen, dass eine Teilnahme - je nachdem - attraktiv oder unattraktiv erscheint.
  • Den Ort und die Zeit der Entscheidungssitzung gezielt auswählen.
  • Eventuell für ‚geeignete‘ gruppendynamische Effekte sorgen (z.B. durch die Teilnehmerzusammensetzung oder durch die unauffällige Platzierung oder auch Vermeidung von Reizthemen).
  • Dafür sorgen, dass die Dinge ‚richtig‘ gesehen und interpretiert werden (Einflussnahme auf die Definition dessen, was geschieht und geschah). Beliebt ist in diesem Zusammenhang auch die Verfassung des Einladungstextes, die Aufstellung der Agenda oder die Übernahme des Protokolls.
  • Lösungen so entwickeln oder anbieten, dass sich durch sie auch persönliche Vorteile für die wichtigsten Entscheider im Raum ergeben.
  • Subjektiv unerwünschte Probleme und Lösungen in solche Entscheidungssituationen lenken, wo sie keinen Schaden anrichten können.
  • Wenn die Chancen für bestimmte Projektvorschläge und Anträge ungünstig sind, möglichst viele davon einbringen, damit das System überlastet wird. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest einige behandelt / bewilligt werden.
  • Dafür sorgen, dass Opponenten besonders an mühsamen und frustrierenden Entscheidungsprozessen teilnehmen, damit sie bald von selbst die Lust verlieren und aussteigen.
  • Sein Verhalten so auswählen, wie es mutmaßlich akzeptiert, gewünscht oder wertgeschätzt wird: sich als besonders kompetenter und / oder als nicht verantwortlicher Experte zeigen; als glaubwürdig, hilfsbedürftig, liebenswert, moralisch integer darstellen; sich gezielt und an der richtigen Stelle entschuldigen; sich situativ einschmeicheln.
  • Bewährte Manipulationstechniken einsetzen wie z.B.:
  • foot in the door technique: Wenn man eine Person erst einmal dazu bringt, einer kleinen Bitte nachzukommen, wird sie im nächsten Schritt eher bereit sein, eine größere Bitte zu erfüllen. Damit verwandt ist die bekannte ‚Salamitaktik’.
  • door in the face technique: Zunächst eine (unverschämt) große Bitte vorbringen, die mit großer Wahrscheinlichkeit abgelehnt werden wird. Dadurch erhöht sich aber die Chance, dass im nächsten Schritt (sofern einem nicht quasi die Tür schon vor der Nase zugeschlagen worden ist) ‚wenigstens‘ eine kleinere Bitte erfüllt wird, die größer sein kann als eine, die sonst akzeptiert worden wäre.
  • low ball technique: Zuerst wird eine gut erfüllbare und vernünftige Anforderung gestellt. Nach der grundsätzlichen Zustimmung werden Zug um Zug die Anforderungen erhöht bzw. es werden weitere Details genannt, welche die Kosten der Zustimmung (wortwörtlich oder im übertragenen Sinne) erhöhen.
  • that´s not all technique: Eine sehr große Bitte oder Anforderung wird ausgesprochen, aber diese wird sofort relativiert durch ein Zugeständnis, welches das Ganze billiger und akzeptabler erscheinen lässt, obwohl es teuer bleibt.
  • Piquet Technique: Eine ungewöhnliche, unerwartete Bitte stellen, die den anderen überrascht und seine gewohnte Art der Ablehnung stört. Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie akzeptiert wird.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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