15. März 2004

Vertrauen

Vertrauen

Was es fragwürdig macht

Auffällig oft taucht das Thema Vertrauen seit einiger Zeit in unterschiedlichsten Diskussionen, Artikeln, Zeitungs- und Fernsehbeiträgen, ja ganzen Büchern auf. Was macht das Thema so virulent? Klar ist: Vertrauen ist absolut grundlegend für Kooperation, Beziehungsqualität und Zusammenleben überhaupt. Aber damit gehört es zu den ‚ewigen’ Themen: Solange es Menschen gibt, wird Vertrauen ein zentrales Thema bleiben. Was aber macht die Frage nach dem Vertrauen gerade jetzt und insbesondere auch als Thema für Führung und Management so relevant und aktuell? Dazu einige Thesen ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Unser Vertrauen ist erschüttert. Durch gehäuft zu beobachtende Phänomene wie, Manipulationen, Bilanzfälschungen, ‚Schwarzgeldaffairen’, Korruption, z.T. maßlose Selbstbedienungsmentalität und Abzockertum, auch in Topmanagementkreisen, also mitten in der selbst prätendierten Leistungselite unserer Zeit, entstehen Fragen, Unwohlsein und Misstrauen: Was sind die wirklichen Motive? Was passiert hinter den Kulissen? Wem kann man überhaupt noch glauben? Was läuft hier schief und ist nicht das ganze System faul?
  • Unsere Welt ist schneller geworden und an vielen Stellen zunehmend virtueller, was insbesondere auch für Arbeitsbeziehungen gilt. Damit kann sich Vertrauen – anders als früher – zunehmend weniger auf Erfahrung und Bekanntschaft miteinander gründen. Um miteinander zu kooperieren und miteinander auszukommen vor dem Hintergrund der jeweiligen Bedingungen und Ziele, ist Vertrauen immer mehr als ‚Vorschuss’ nötig.
  • Deutlich gewachsen ist auch die generelle Komplexität unseres Arbeits- und häufig auch unseres Privatlebens. Immer mehr Bedingungen und Voraussetzungen, struktureller, technischer, ökonomischer, sozialer und anderer Natur spielen hinein. An den meisten Stellen sind wir hier schon aus Kapazitäts-, aber auch aus Wissensgründen gar nicht in der Lage, ernsthaft zu überprüfen, was passiert. Wir sind verurteilt zu glauben und zu vertrauen.
  • Der Materialismus bestimmt unser Denken, unser Handeln und unsere Welt. Historisch und gesellschaftlich ist er immer universaler geworden. Gleichzeitig wird er durch das zu­nehmend weitere Auseinanderdriften von Arm und Reich, Mächtig und Ohnmächtig, Arbeitsüberlastet und Arbeitslos immer häufiger als unfair und rücksichtslos erlebt. Kaum etwas ist aber, wie die historische Erfahrung, so prädestiniert, das Bewusstsein ethischer und hehrer Ideale auf den Plan zu rufen wie die als schnöde und moralitätsfern empfundene Wirklichkeit der Welt.

Vertrauen wird also für uns zunehmend fragwürdig. Wir brauchen es, heute vielleicht mehr denn je. Gleichzeitig scheint es uns aber an vielen Stellen außerordentlich schwer zu fallen, es zu geben. Was ist Vertrauen? Was bremst es? Was kann helfen, es zu fördern? Wie wirken Vertrauens- und Misstrauensmechanismen? Wie kann Vertrauen durch Führung stärker entwickelt werden? Dies sind einige der Fragen, vor denen wir stehen.

Was es ist

Das Bedeutungswörterbuch des Dudens beschreibt Vertrauen als „Erwartung, dass man sich auf jemanden / etwas verlassen kann.“ Geht man etwas hinter diese sehr allgemeine Bedeutung von Vertrauen so kann man sagen, dass Vertrauen grundsätzlich drei Pole hat: die eigene Person, den anderen und die Welt. Dementsprechend kann man drei Arten des Vertrauens unterscheiden:

 

1. das Vertrauen zu sich selbst: das Selbstvertrauen;

2. das Vertrauen in andere und

3. das Vertrauen zur Welt, also so etwas wie ein inneres „Ja“ zum Leben, das Gefühl an einem zumindest grundsätzlich lebenswerten Ort zu sein.

Klar ist, dass diese drei Pole in starker Wechselwirkung zueinander stehen. Ohne das basale Welt- oder Lebensvertrauen wird es kein Vertrauen in sich selbst oder andere geben. Ebenso werde ich anderen kaum vertrauen können, wenn ich nicht einmal mir selbst traue. Und wenn ich anderen abgrundtief misstraue, so wird auch mein Selbstvertrauen kaum auf wirklich gesunden Füßen stehen. Umgekehrt wird ein hohes natürliches Selbstvertrauen auch das Vertrauen in andere eher ermöglichen und stärken; und gute Erfahrungen mit dem anderen entgegengebrachten Vertrauen werden auch das Vertrauen in mich selbst, meine eigenen Wahrnehmungen, Einschätzungen und Handlungen eher noch vertiefen. Vertrauen erweist sich also immer als persönlich-sozial-existentiell hoch vernetzt.

Sofern sich Vertrauen auf Personen bezieht, also ein Sich-Verlassen auf andere oder auf sich selbst ist, fußt es auf einer Einschätzung sowohl zum Können als auch zum Wollen desjenigen, dem man vertraut. Vertrauen tue ich, wenn ich davon ausgehe, dass die jeweils erforderliche Kompetenz und die erforderliche Bereitschaft da ist. Das Vertrauen anderen gegenüber, um das es ja in Führungs- und Kooperationsbeziehungen ganz besonders geht, lässt sich dann mit Sprenger wie folgt spezifizieren: „Ich bin bereit auf die Kontrolle eines anderen zu verzichten, weil ich erwarte, dass der andere kompetent, integer und wohlwollend ist.“ (Sprenger, 2003, 66) Essentielle Voraussetzung dieses Vertrauens ist Selbstvertrauen. Nur wenn ich mir – in nicht bloß aufgesetzter oder kompensatorischer Weise – selbst vertraue, werde ich, auch da, wo tatsächlich etwas auf dem Spiel steht, anderen ernsthaft Vertrauen schenken können.

Was Vertrauen mit Risiko und Kontrolle zu tun hat

Vertrauen wird immer wieder als Risiko angesehen, was dann auch oft als Grund dafür dient, nicht zu vertrauen, um eben dieses Risiko zu meiden. Wie allerdings schon Niklas Luhmann deutlich gezeigt hat, kommt zuerst das Risiko und dann das Vertrauen oder das Misstrauen. Die risikoreiche Situation, von der wir nicht wissen, wie sie ausgeht, stellt uns also vor die Wahl zu vertrauen oder zu misstrauen. Das Risiko liegt somit nicht im Vertrauen, sondern in der Situation, auf die das Vertrauen oder eben das Misstrauen als Antwort gezeigt wird. Dabei erweist sich mit beeindruckender Regelmäßigkeit, dass Misstrauen zumeist auch auf der anderen Seite zu Misstrauen und damit zu einer für gewöhnlich deutlich suboptimalen Lösung führt. Vertrauen andererseits bietet zwar keine Gewähr, aber immerhin eine gute Chance dafür, auch beim anderen Vertrauen hervorzurufen und so gemeinsam zu einer besseren Lösung zu gelangen.

Vertrauen zu geben bedeutet dabei keineswegs, auf Kontrolle zu verzichten; denn Vertrauen ist nichts, was entweder ganz oder gar nicht besteht. So wie beispielsweise auch Offenheit, Engagement, Motivation oder Kompetenz bewegt sich Vertrauen auf einem Kontinuum. Es kann stärker oder weniger stark ausgeprägt sein. Wohlüberlegtes Vertrauen bedeutet dann auch, zu schauen, wie viel Vertrauen gut und welche Kontrolle erforderlich oder hilfreich ist. Kontrolle führt daher auch nicht zwangsläufig zu einem Vertrauensverlust. Im Gegenteil: In einer vertrauensvollen Beziehung kann eine vernünftige Kontrolle, wenn sie z.B. eine wichtige informatorische Funktion hat, sogar dazu beitragen, das Vertrauen weiter zu vertiefen. Umgekehrt wird, wenn Misstrauen herrscht, Kontrolle umso eher einen einengenden und weiter vertrauensreduzierenden Charakter haben. Und natürlich wird ein Übermaß an Kontrolle – das gar nicht so selten anzutreffende Bestreben, möglichst alles, was wie auch immer definierte Relevanz besitzt, auch zu kontrollieren – Misstrauen in jedem Fall verstärken.

Wie die Kraft entsteht

Vertrauen und Misstrauen sind zirkulär. Vertrauen stärkt Vertrauen. Misstrauen stärkt Misstrauen. Wie aber wirkt Vertrauen? Was führt dazu, dass es eine so basale und durchschlagende Kraft entfalten kann?

Sehr viele Dinge im Leben sind einforderbar: die Erfüllung von Verträgen, vereinbarte Leistung, Geld, auf das man einen Anspruch hat, Garantie- oder Schadensersatzleistungen, Unterhaltsansprüche, Informationen, die einem zustehen etc. Vertrauen demgegenüber kann nur freiwillig gegeben werden. Zwar wird Vertrauen manchmal gefordert; doch schon diese Forderung genügt häufig, es tatsächlich zu schwächen. Wenn Vertrauen bedeutet, in einer Risikosituation auf Kontrolle zu verzichten, weil ich erwarte, dass ich mich auf den anderen verlassen kann, dann ist Vertrauen eher wie ein Geschenk. Je größer das Risiko, das ich aktiv, das heißt bewusst und freiwillig, eingehe, desto größer die ‚Gabe’. Und hier steckt die Kraft, die wirkt.

Wie Alltagserfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungen gleichermaßen zeigen: Menschen suchen nach Ausgleich. Menschliche Beziehungen lassen sich als Tausch­beziehungen beschreiben. Die Ebene materieller Dinge ist dabei nur eine unter vielen für den Tausch relevanten. Der Systemforscher und –therapeut Fritz Simon bringt dies in seinem Buch „Radikale Marktwirtschaft“ wie folgt auf den Punkt: „Wer handelt, der handelt. Das heißt, wer Handlungen setzt, betreibt damit auch immer Handel. Oder anders: Menschliche Verhaltensweisen lassen sich als Waren betrachten, die bewertet und getauscht werden.“ (Simon et al., 1998, 16). Geben und Nehmen müssen dabei in einem gewissen Gleichgewicht stehen, damit sich die Tauschpartner gut und entspannt fühlen können. Wenn wir also etwas geschenkt bekommen, gerät damit zumindest für einen Moment die Beziehung zu dem Geber aus dem Gleichgewicht und wir spüren das Bedürfnis, das Empfangene irgendwie wieder auszugleichen. Mit den Worten Sprengers: „Vertrauen verpflichtet ... Wenn wir für vertrauenswürdig gehalten werden, fühlen wir einen starken Druck, den wir nur mildern können, indem wir etwas zurückgeben. In unserem Fall: wenn wir dem Vertrauen entsprechen. Das zutrauende Element wirkt also wie eine Hypothek.“ (Sprenger, 2003, 102f) Und diese „Hypothek“ wirkt umso stärker, je mehr das Vertrauen dem anderen uninstrumentalisiert, ohne die – wie auch immer subtile - Forderung nach Ausgleich entgegengebracht, also tatsächlich geschenkt wird.

Woran es häufig fehlt

Ohne Vertrauen ist Zusammensein und Zusammenarbeit von Menschen wenig fruchtbar und noch weniger erquicklich. Für niemanden ist dies eine Offenbarung. Jeder von uns hat Erfahrung damit, was Vertrauen bewirken und mangelndes Vertrauen anrichten kann. Was macht Vertrauen trotzdem so oft so schwer?

„Man vertraut nicht darauf, dass andere vertrauen. Entsprechende Äußerungen lauten so: „Ich habe mit Vertrauen kein Problem. Ob man aber den anderen vertrauen kann, da bin ich mir nicht so sicher.“ Oder, noch treffender: „Ich hätte mit Vertrauen kein Problem!“ Und da jeder so denkt, bewegt sich nichts. Die erwiesenermaßen falsche (aber allgemein für richtig gehaltene) Unterstellung über die Betrugsbereitschaft „aller anderen“ verhindert, dass sich die von nahezu allen bevorzugte Vertrauensatmosphäre tatsächlich entwickelt. Man ist erstarrt in einer gleichsam halbierten Vertrauenswelt. Dabei neigen wir dazu, unsere eigene Vertrauenswürdigkeit zu überschätzen und die anderer zu unterschätzen. Lügen, Meinungsverschiedenheiten und enttäuschte Erwartungen werden in einen Topf geworfen, ebenso Unzuverlässigkeit und kulturelle Unterschiede, und schon hat man alles zusammen: „Man kann den anderen einfach nicht trauen!“ Dann beginnt die Abwärtsspirale, in der jeder den anderen als möglichen Trittbrettfahrer des eigenen Gutmeinens beargwöhnt.“ (Sprenger, 2003, 176)

Um aus einer solchen Abwärtsspirale heraus- oder erst gar nicht in sie hineinzukommen, um eine Vertrauenskultur, die diesen Namen tatsächlich verdient, aufzubauen oder weiterzubringen, gibt es, wie schwierig dies auch im Einzelfall erscheinen mag, nur ein einziges wirksames Mittel, und das ist, nicht naiv, aber doch ernsthaft und konsequent zu vertrauen: Vertrauen in Vertrauen zu entwickeln, darauf setzen, dass das Vertrauen, das man selbst anderen entgegenbringt, das wechselseitige Vertrauen stärkt und so schließlich eine neue Beziehungs- und Kooperationsqualität ermöglicht. So schwierig dies auch im Einzelfall sein mag – unvergleichbar schwieriger und unproduktiver ist in der Regel, jedenfalls längerfristig betrachtet, den Weg des Vertrauens nicht zu gehen.

Was Vertrauen fördern kann

Folgende Management-Strategien können helfen, Vertrauen aufzubauen und zu vertiefen:

 

1. Vertrauen anstelle von Misstrauen

Dem anderen Vertrauen schenken. So handeln, als ob man Vertrauen könnte.

 

2. Bewusste Abhängigkeit anstelle des „Ich-bin-unverwundbar-Spiels“

Sich auf Mitarbeiter verlassen, sie spüren lassen, dass man sie wirklich braucht, sich aktiv verwundbar machen.

 

3. Zuverlässigkeit anstelle der Haltung „Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von vorgestern“

Zusagen und Versprechen, wenn irgend möglich einhalten; gerade auch diejenigen, die man sich selbst gegenüber gegeben hat (was auch bedeutet: mit Versprechungen sehr vorsichtig und bedacht umzugehen).

 

4. Berechenbarkeit anstelle von „heute so – morgen so“

Bei aller situativen Flexibilität und allem Pragmatismus in seinem Handeln konsistent bleiben.

 

5. Ehrlichkeit anstelle von opportunistischer Wetterwendigkeit

Sich nicht verstellen, sich nicht verbiegen. Die Wahrheit aktiv ansprechen, auch wenn es unbequem ist.

 

6. Zuschreibungsgerechtigkeit anstelle von „Die Erfolge gehören mir – die Fehler gehören Euch“

Erfolge von anderen, insbesondere von Mitarbeitern als deren Erfolge anerkennen und benennen. Eigene Fehler auch dann, wenn es unangenehme Konsequenzen nach sich zieht, eingestehen.

 

7. Fairness anstelle von Selbstgerechtigkeit („Wenn ich es tue, ist es fair“)

Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln, auch wenn persönliche Sympathien, Antipathien oder Interessen mit im Spiel sind.

 

8. Vorbildlichkeit anstelle von „Wasser predigen und Champagner trinken“

Vorleben, was man von anderen erwartet. Die gleichen Maßstäbe an das eigene Verhalten anlegen wie an das Verhalten anderer.

 

9. Vertrauen auf Eigenverantwortlichkeit anstelle von hoheitlicher Kontrolle

Darauf setzen, dass der Mitarbeiter die Fähigkeit und Bereitschaft hat, seine Arbeit in Eigenverantwortung erfolgreich wahrzunehmen und dass er, wenn man ihm eine wichtige Aufgabe übertragen hat, zu einem kommt, wenn er eine Frage hat, ein Problem sieht oder sich abstimmen möchte.

 

10. Konsequente Verantwortungsübertragung anstelle von Schönwetterdelegation

Auch in schwierigen Situationen den Mitarbeiter, an den man eine Aufgabe delegiert hat, in der Verantwortung lassen. Ihm Unterstützung anbieten, aber ihn nicht mal eben der Verantwortung entheben.

 

11. Würdigung und Integration anstelle von „Was gestern war, zählt heut nicht mehr“

In der Vergangenheit gezeigte Leistungen und Erfahrungen würdigen, und gemeinsam danach suchen, wie das bisher Bewährte durch die neue Situation erweitert und verändert werden muss.

 

12. Konstruktive Konfliktklärung anstelle des „Schwarzen-Peter-Spiels“

In Konfliktsituationen ernsthaft nach einer Win-Win-Strategie suchen.

 

Literaturverzeichnis

Axelrod, R., 1991: Die Evolution der Kooperation. München

Luhmann, N., 1989: Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart

Simon, F. B. und C/O/N/E/C/T/A, 1998: Radikale Marktwirtschaft. Grundlagen des systemischen Managements. Heidelberg

Sprenger, R. K., 2003: Vertrauen führt. Worauf es im Unternehmen wirklich ankommt. Frankfurt am Main

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


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