14. Dezember 2020

Ist Wissen der Schlüssel gegen Populismus?

Wie ist der Erfolg von Donald Trump, Boris Johnson, Viktor Orban oder Björn Höcke möglich? Wieso folgen so viele Menschen ihren schrägen und merkwürdigen Erzählungen, die teilweise in sich widersprüchlich sind und weitgehend faktenbefreit? Ist die Menschheit dabei, in großen Teilen zu verblöden? Muss dringend nachgeschult werden?

Die gute Nachricht lautet, dass ein signifikanter Rückgang der menschlichen Intelligenz in so kurzer Zeit nicht möglich ist. Was sich aber geändert hat, sind die Umstände. Wir befinden uns inmitten großer technologischer, machtstrategischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Umbrüche. Und solche Umbruchphasen erleben die meisten von uns als dramatisch und beängstigend. Lange Zeit scheinbar Selbstverständliches gilt nur noch eingeschränkt, Vertrautes verschwindet, gewohnte und liebgewonnene Bezüge und Beziehungen lösen sich auf. Wir erleben heute die reale Komplexität einer sich neu organisierenden, globalisierten Welt und verlieren in weiten Teilen den vermeintlichen Durchblick. Die Gegenwart wird unverständlich und die Zukunft erscheint Vielen bedrohlich und geprägt von Verlusten und Verzicht. All das setzt uns unter Stress. Wenn wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen, kann das zu einer Problemfixierung und einem Tunnelblick führen, der differenziertes Denken und rationales Handeln erschwert oder verunmöglicht. Wir verdrängen, spielen herunter, weichen aus, erfinden oder übernehmen merkwürdige Geschichten und mobilisieren Energie in Form von Wut und heftiger Aggression, um das Übel zu beseitigen. Es ist klar, dass unter solchen Bedingungen wilde Parolen entstehen und eine gute, konstruktive Zusammenarbeit nur schwer möglich ist, wenn Realisten und Realitätsverweigerer zusammenkommen. Wir kennen solche Vorgänge aus betrieblichen Change Prozessen. Im gesellschaftlichen Zusammenhang sind sie ähnlich, aber natürlich ist die Dimension eine ungleich größere.

Ein häufiges und typisches Phänomen in solchen Zeiten folgt unserem Bedürfnis nach Orientierung, Verstehen und Einordnen. Wir werden zumindest nervös, wenn wir vor einer Situation stehen, die uns Angst macht und für die wir keine oder keine einleuchtende Erklärung haben. Dabei ist uns eine Erklärung mit negativem Inhalt gewöhnlich lieber als gar keine Erklärung nach dem Motto: „So macht das Ganze Sinn. Es ist zwar Mist, aber wenigstens wissen wir Bescheid!“  Eine wichtige Rolle spielen neuropsychologische Zusammenhänge: Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass uns häufig starke Gefühle weitaus mehr steuern als es Gedanken tun können. Die erste Reaktion nach einer alarmierenden Wahrnehmung ist eine Emotion. Diese ist umso stärker, je bedrohlicher uns die Situation erscheint. In Notsituationen übernimmt dann direkt das emotionale System das Kommando und dominiert das kognitive System. Es liefert einfache und uns plausibel erscheinende Verstehens-Empfehlungen und greift dabei auf Erfahrungen und äußere Informationen zurück, die für uns den Glaubwürdigkeitstest bestanden haben. Unser kognitives System folgt Stimmungen und konstruiert Kausalitäten auch dort, wo es gar keine gibt, auf der Basis unserer Glaubenssätze und Werte. Zweifel und Zwiespältigkeit werden unterdrückt, um kognitive Dissonanzen zu vermeiden und scheinbare Eindeutigkeit zu gewinnen. Gewählt werden bevorzugt solche Erklärungen, die für uns unmittelbar verständlich sind und die aus Angst und teilweise Verzweiflung gespeiste Wut aufnehmen können. Komplizierte und abstrakte Erklärungen erscheinen unglaubwürdig, auch weil sie schwer zu verstehen sind und jenseits des gewohnten Denkens liegen. Tatsächlich sind die Verhältnisse in einer komplexen Welt jedoch systemischer Natur, oft zufällig, und höchstens teilweise vorhersehbar. Einfache Erklärungen kennen keine Zufälle sondern nur simple und ausrechenbare Ursachen - Wirkungsketten. Dazu gehört die Identifikation von Schuldigen, was zusätzlich den „Vorteil“ hat, dass man seine Wut und Aggression adressieren kann. Typische Kandidaten dafür sind eine mysteriöse Elite und/oder eine scheinbar homogene Gruppe von Minderheiten, von denen man nicht einmal jemanden persönlich zu kennen braucht. Der Sehnsuchtsort liegt in der Regel in der Vergangenheit. Man glaubt sie zu kennen, obwohl sie in der Erinnerung meist viel zu gut wegkommt. Und man pflegt die Illusion, wieder dorthin zurück zu können.

Offensichtlich falsche und absurde Erklärungen scheinen von einfachen Geistern zu stammen bzw. übernommen zu werden. Viele denken dabei z.B. an die sogenannten Hillbillies und Rednecks in den US-amerikanischen Provinzen, wo ganz überwiegend Donald Trump gewählt wurde. Diese von Teilen der liberalen und intellektuellen Kreise verächtlich betrachteten Gruppen haben in der Regel tatsächlich nur wenig Schulbildung mitbekommen. Es gibt von daher die Hoffnung, dass mehr Wissen Menschen dazu bringen könnte, rationaler zu werden und sich weniger leicht verführen zu lassen. Erfahrungsgemäß geht diese Hoffnung aber nicht auf. Viele Menschen, die Populisten und deren Ideen anhängen, haben durchaus hohe Schul- und Hochschulabschlüsse. Das zeigt sich in Deutschland und überall in der Welt.  Auch unter den Nationalsozialisten im sogenannten „Dritten Reich“ waren viele Akademiker und große Teile der gebildeten bürgerlichen Elite, die sich den kruden und menschenverachtenden Weltanschauungen angeschlossen haben.

Wissen ist kein Schlüssel gegen Populismus und übergroße Vereinfachungen, zumindest nicht allein. Dabei ist der Begriff des Wissens selbst schillernd. In Fachkreisen findet man eine verwirrende Vielzahl an Definitionen für sehr verschiedene Wissensarten, die teilweise schlecht voneinander abgegrenzt sind und untereinander große Schnittmengen teilen. Ähnliches gilt für den Begriff Bildung. Das klassische Wissensverständnis erinnert an Schule: ein allgemeiner und individuell verfügbarer Bestand an Fakten, Theorien und Regeln, von deren Gültigkeit oder Wahrheit allgemein ausgegangen wird. Der Begriff Bildung ist weiter gefasst. Er umfasst dem üblichen Verständnis nach die Gesamtheit der Fähigkeiten und Eigenschaften einer Persönlichkeit. Bildung wird in diesem Sinne ganzheitlich und persönlich verstanden. Der Begriff passt deshalb für unser Thema besser. Er verweist nicht auf Bestände, sondern auf Potenziale oder Kompetenzen. Ein geeignetes Kompetenzbündel könnte durchaus ein Schlüssel für gute und konstruktive Zusammenarbeit sein und auch die Verführbarkeit gegenüber populistischen Parolen reduzieren. Es könnte aus folgenden Teilen bestehen:

  • Intellektuelle Kompetenzen
  • Soziale Kompetenzen
  • Emotionale Kompetenzen
  • Ethisch - moralische Kompetenzen.

Was steckt jeweils dahinter?

Intellektuelle Kompetenzen (intellegere, lat.: verstehen) erwirbt man vor allem an Schulen und Hochschulen. Sie schließen das klassische lexikalische Verständnis von Wissen ein: Fakten, Theorien und Regeln. Für die Nutzung solcher Wissensbestände ist man heute nicht mehr auf große Gedächtnisleistungen angewiesen. Im Zeitalter des Internet sind sie viel leichter und umfassender verfügbar als früher. Mit Wissenselementen werden Zusammenhänge, Konzepte und Modelle konstruiert, Methoden und Verfahren entwickelt und Prozesse gesteuert. Es geht um logisches Verstehen, um Anwenden, Differenzieren, Analysieren, Evaluieren und Kreieren. Valide Konzepte und Modelle sind unverzichtbar, wenn es um brauchbare Orientierung in der Welt und um ein realitätsgerechtes Handeln geht. Tatsachen und Logik sind eigentlich geeignete Gegenmittel gegen übereinfache populistische Parolen, aber leider gibt es nicht für alle wichtigen Themenbereiche harte Fakten und überprüfbare Zusammenhänge. Vor allem aber fehlt es bei den meisten Anhängern solcher Parolen an der Bereitschaft und zumindest vorübergehend am Vermögen, sich auf Rationalität einzulassen. Es muss mit anderen Worten noch etwas hinzukommen. Wissen ist höchstens eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung.

Soziale Kompetenzen beinhalten vor allem Kommunikation (andere verstehen und selbst verstanden werden), die Einschätzung sozialer Situationen und den konstruktiven Umgang mit Unterschiedlichkeit und Konflikten. Erlernt werden solche Kompetenzen durch Erfahrungen, vor allem in der Familie und in jungen Jahren. Natürlich geht das auch später – aber nicht mehr so leicht und organisch. Theoretisches Wissen über soziale Themen kann Erfahrung nicht ersetzen, aber es kann helfen, Erlebtes reflektieren und besser einordnen zu können und soziales Handeln zu planen. Intellektuelle und soziale Kompetenzen sind schon sehr wichtige Voraussetzungen für ein produktives Miteinander, sie können auch Schutzschilde vor populistischen Verführungen sein. Aber sie helfen nur bedingt, wenn man sich gerade im Tunnel bzw. im Affekt befindet.

Emotionale Kompetenzen beinhalten Selbstkontrolle, Empathie sowie die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Introspektion (was geht gerade emotional in mir vor?). Die persönliche Lebensgeschichte entscheidet über das Ausmaß an emotionalen Kompetenzen, wobei auch hier die frühen Erfahrungen im Allgemeinen stärker prägen als die späteren. Emotionale Kompetenzen können verhindern, von Emotionen überflutet zu werden und ermöglichen dadurch so etwas wie persönliche Souveränität. Dafür ist es notwendig, automatisch ablaufende emotionale Prozesse (z.B. solche, die in hitzigen Konfliktsituationen zu beobachten sind) willentlich zu unterbrechen und ein wenig inneren Abstand herzustellen. Das können eventuell leise Selbstgespräche leisten, Imaginationen oder Atemtechniken. Wichtig ist es, seine eigenen Reizpunkte („hot buttons“) zu kennen und freundlich mit ihnen umgehen zu können. Wenn das gelingt, fällt es wesentlich leichter, einen kühlen Kopf zu bewahren. Auch hilft es, sich auf schwierige Situationen vorzubereiten und ein subjektiv passendes Frühwarnsystem einzurichten. Mit intellektuellen, sozialen und emotionalen Kompetenzen besitzt man ein gutes Rüstzeug für realitätsgerechtes Handeln und ein produktives Miteinander. Was noch fehlt, sind passende Werte und Einstellungen.

Ethisch-moralische Kompetenzen basieren auf Werten. Dabei spielt das Verhältnis von Gemeinwohl und Eigenwohl eine wichtige Rolle. Mit Egomanen, die vor allem an ihre eigenen Interessen denken und ständig selbst möglichst gut wegkommen wollen, auch wenn es zu Lasten anderer geht, ist ein produktives gemeinschaftliches Denken und Handeln nur schwer möglich. Dies wird in Zeiten der Pandemie sehr sichtbar. Gemeinwohlorientiertes und in diesem Sinne kultiviertes Handeln fällt grundsätzlich schwer in einer hochindividualisierten Welt voller sich selbst optimierender Ich-AGs, in der Narzissmus salonfähig ist und z.B. persönlich zugeschnittene Nachrichten, Aufforderungen und Werbeangebote verschickt werden, die einem einreden wollen, etwas Hervorgehobenes und Besonderes zu sein oder werden zu können. Kleinteiliger werdende gesellschaftliche Milieus und Communities, die sich stärker voneinander abgrenzen, verstärken diesen Effekt. Zu kurz kommt dann die Einsicht, dass ethisch-moralisches Handeln mittel- und langfristig nicht nur der Gemeinschaft nutzt, in der wir leben, sondern auch uns selbst Vorteile bringt.

Die vier genannten Kompetenzbereiche geben zusammen die besten Voraussetzungen ab, um gut und produktiv zusammenleben und zusammenarbeiten zu können. Auch die Verführbarkeit gegenüber platten populistischen Parolen und Verschwörungsphantasien kann mit ihnen sinken. Nicht beseitigen können sie jedoch die Risiken und Unbestimmtheiten einer komplexen Umwelt. Der dadurch verursachte Stress kann, wie beschrieben, wieder zum Verlust von Teilkompetenzen führen. Zusätzlich helfen können hier neben emotionaler Stabilität bestimmte Einstellungen. Dazu gehört es, im Zweifel eher optimistisch als pessimistisch in die Welt zu schauen. Dies ist eine Entscheidungsfrage, denn wissen kann man die Zukunft bekanntlich nicht. Sollte man mit seiner Entscheidung falsch liegen und sich der Optimismus später als unberechtigt herausstellen, hätte man immerhin bis dahin eine deutlich bessere Zeit erlebt.

Mit Optimismus fällt es leichter, eine unbestimmte und beängstigende Situation bewusst anzunehmen und mit der notwendigen Energie zu versuchen, das jeweils Beste daraus zu machen. Wenn es darüber hinaus gelingt, das Gute im Schlechten zu finden, kann das Ganze sich unter Umständen sogar zum Positiven wenden.

Die Entwicklung und Aktivierung von Teilkompetenzen und Kompetenzbündeln sowie die Einnahme konstruktiver Haltungen mag teilweise anstrengend sein und ein wenig Disziplin verlangen. Es bringt aber dafür ein positiveres Lebensgefühl mit sich und erhöht die Wahrscheinlichkeit für gute und gemeinschaftlich erzielbare Ergebnisse.

Wie lassen sich die vier Kompetenzbereiche jenseits von Erziehung und Familie erlernen? Sicher nicht im normalen Schulbetrieb mit Faktenpauken und Frontalunterricht. Auch die viel diskutierte Digitalisierung hilft nicht entscheidend weiter. Virtuelle Konferenzen, individualisierte Online-Tutorials oder gute Lernvideos mit trickreicher Veranschaulichung sind wertvolle Ergänzungen. Sie zeigen ihr ganzes Potenzial dann, wenn sie eingebettet sind in ganzheitlichen pädagogischen und didaktischen Konzepten. Auch wenn Gruppenbezüge und eigenständige Erarbeitungen darin eine wichtige Rolle spielen: Im Vordergrund steht weiterhin etwas, das altmodisch und traditionell klingen mag: Eine persönliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, die es möglich macht, vertrauensvoll, individuell und erfahrungsbezogen miteinander zu arbeiten. Gefragt sind nach wie vor positive Rollenmodelle und Vorbilder, möglichst live erlebt. Lernen ist und bleibt ein sozialer Vorgang und verlangt Präsenz, die durch digitale Settings zumindest nicht komplett ersetzt werden kann.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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Alles Leben steht unter dem Paradox, dass wenn alles beim alten bleiben soll, es nicht beim alten bleiben darf.