Globalisierung, Liberalisierung und Digitalisierung verändern die Welt rasant. Diese Entwicklung tritt jedoch nicht überall zur gleichen Zeit, in der gleichen Art und Weise und in derselben Intensität auf, und sie trifft auf Menschen, die mehr oder weniger gut darauf vorbereitet sind. Die Unterschiede in den Lebenswelten werden dadurch größer, vieles wird individueller und wir werden uns fremder. Zunehmender Konzentration auf der einen Seite stehen die Zersplitterung und der Zerfall von Institutionen auf der anderen Seite sowie die Relativierung vieler traditioneller Vorstellungen und liebgewonnener Gewohnheiten gegenüber. Irgendwie mag das schon immer so gewesen sein, aber nicht in diesem Tempo und in dieser Radikalität. Im Zuge dieser Entwicklung gibt es Profiteure und Gewinner, mehr oder weniger begeisterte Mitläufer, Protestierer, Nachzügler, Abgehängte und Verlierer. Die Menschen in den vorderen Reihen freuen sich über faszinierende Möglichkeiten und Chancen, die Menschen in den hinteren Reihen empfinden die Welt dagegen als unfair und verrückt geworden. Es ist nachvollziehbar, dass sich vor diesem Hintergrund auch Frust, Ängste und Wut ausbreiten. Es ist sogar erklärbar, dass bei einigen autoritäre Ansätze wieder attraktiv geworden sind, also Vorstellungen davon, dass ein starker Mann die Verhältnisse mit Macht in eine (verklärte) Vergangenheit zurückführt, um Gerechtigkeit und die vermeintlich verloren gegangene Einheitlichkeit wiederherzustellen.
Das rasche Aufkommen von Neuem, das Verschwinden von Altgewohntem und die ungleiche Verteilung der Früchte der Moderne führen unvermeidbar zu Spannungen und Konflikten. Werden sie nicht bearbeitet, drohen weitere Spaltungen und Eskalationen, gesellschaftlich, aber auch in Organisationen und Familien. Wie kann das verhindert werden?
Natürlich nicht mit einer einzigen Maßnahme. Wir wissen jedoch alle aus eigenen Erfahrungen, dass die Voraussetzung und der erste Schritt für eine nachhaltige Konfliktlösung ein echtes Interesse an der Sicht- und Erlebensweise des jeweils anderen ist. Den anderen einigermaßen zu verstehen oder wenigstens der ernstgemeinte Versuch dazu ist die Grundlage für jede Form der Kooperation, für Vertrauensbildung und Toleranz. Und sie wird gelegt im Gespräch zwischen Mensch und Mensch.
Exkurs: Die Subjektivität des Erlebens
Erleben ist zu 100 % subjektiv. So wie wir einen konkreten Augenblick erleben, erlebt es auf der Welt kein Zweiter. Dem subjektiven Erleben zugrunde liegen sogenannte „mentale Modelle“, das sind Systeme von mehr oder weniger bewussten Annahmen und Vorstellungen, die orientierend und sinnstiftend, handlungsleitend und wahrnehmungssteuernd sind. Wir entwickeln ständig auf der Grundlage unserer Modelle ein für uns stimmiges und mehr oder weniger konsistentes Bild von uns und der uns umgebenden Welt. Man könnte auch sagen, jeder von uns lebt in seiner eigenen, von ihm selbst konstruierten Welt. Und jeder von uns hat in dieser seiner Welt immer Recht! Mentale Modelle sind das Ergebnis unserer Lebens- und Lerngeschichte und basieren auf unseren Erfahrungen sowie den Erzählungen unseres sozialen Umfeldes. Sie vermitteln Sicherheit („ich weiß Bescheid“) und werden deshalb bei Bedarf energisch verteidigt und nur im Notfall in Zweifel gezogen.
Der fundamentale Verstehens- und Erlebenskreislauf lässt sich folgendermaßen skizzieren:
Wir nehmen etwas wahr, d.h. wir sehen, hören, spüren, riechen etwas. Diese Wahrnehmung ist selektiv, weil wir gar nicht imstande sind, alles das, was quasi im Angebot ist, mit unseren Sinnen aufzunehmen. Die wichtigsten Selektionsfilter sind neben unserem situativen Aufmerksamkeitsfokus unsere auf Erfahrungen basierenden Erwartungen. Zusätzlich beeinflussen unsere gerade drängendsten Bedürfnisse unsere Aufmerksamkeit und unsere Erklärungsmuster. Wir verleihen dem Wahrgenommenen automatisch einen Sinn, d.h. wir suchen nach einer für uns stimmigen und plausiblen Erklärung. Diese Erklärung („Nun wissen wir Bescheid“) basiert ebenfalls auf unseren Erfahrungen und Erwartungen sowie auf unserem Wissen. Das von uns so Verstandene bewerten wir im selben Moment – wir finden es z.B. gut oder schlecht, alarmierend oder beruhigend, spannend oder langweilig. Bewertungen sind immer mit Gefühlen verbunden und Gefühle mit Handlungsimpulsen. Wir verhalten uns entsprechend unserer Einschätzungen der Situation und unserer Schlussfolgerungen daraus. Dementsprechend ist das Echo aus unserer Umgebung häufig das Ergebnis einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Anders ausgedrückt folgt unser Erleben und Verhalten der internen Logik unserer mentalen Modelle. Unser Horizont ist dadurch ziemlich klein. Wir verbleiben meist konsequent in unserem mentalen Schneckenhaus und bestätigen regelmäßig unsere eigenen Annahmen. Sie können auch sagen: Die Suppe, die wir mehr oder weniger gut gelaunt auslöffeln, haben wir uns zumindest teilweise selber eingebrockt.
Wie geht Verstehen?
Der Ausgangspunkt für Verstehen ist die Erkenntnis, dass der andere in seiner Welt immer gute Gründe hat sich so zu verhalten wie er sich verhält. Zu 100 % werden wir den anderen nie verstehen können. Wie auch: Wir verstehen uns ja selbst oft nicht. Respektvolle Neugierde ist notwendig, um den anderen einigermaßen zu verstehen, und die Haltung eines Ethnologen, der ein fremdes Naturvolk besucht und es ergebnisoffen zu studieren versucht. Im Grunde handelt es sich um ein Forschungsvorhaben, und die größte Versuchung besteht darin, die eigene innere Welt mit der seines Gegenübers zu verwechseln oder durcheinander zu bringen. Natürlich können wir diejenigen Menschen besonders leicht verstehen, die uns ähnlich sind oder die in einem ähnlichen sozialen Umfeld (familiär, beruflich, kulturell) leben oder gelebt haben.
Empathie funktioniert vor allem auf der Gefühlsebene. Sie setzt Aufmerksamkeit voraus für das, was der andere körpersprachlich zeigt und was er sagt. Seine dahinterstehenden Haltungen und Gefühle können wir meistens gut erraten, denn wir kennen sie und sie sind ansteckend. Hilfreich ist deshalb oft die nach innen gerichtete Frage, was der andere gerade in mir emotional auslöst und welche Assoziationen damit einhergehen. Eventuell spüren wir komplementäre („ich muss ihm helfen oder ihn schützen“) oder oppositionelle („Das ist doch das Letzte!“) Gefühle. Unser Empfinden kann helfen, den anderen und die Situation insgesamt besser zu verstehen. Nach innen gerichtete Checkfragen („Was löst er oder sie bei mir aus?“) können auch davor schützen, automatisch, rein reflexhaft zu reagieren und damit die Dinge unkontrolliert zu verschlechtern.
Sicherer fühlen wir uns gewöhnlich auf der verbalen Ebene. Hier gilt es, gut zuzuhören. Auch das ist leichter gesagt als getan, denn es erfordert die volle Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Und es erfordert die Disziplin, die eigenen Gedanken und Bewertungen zunächst einmal zurückzustellen. Wir kennen das: Immer wieder kommen unsere eigenen mentalen Modelle schon nach den ersten Stichworten auf Touren, und wir reagieren bereits, bevor der andere ausgesprochen hat.
Das Gegenstück zum Zuhören ist das Fragen. Gut sind Fragen dann, wenn die dahinterstehende Haltung ergebnisoffen ist und wir nicht insgeheim glauben, besser als der andere zu wissen, was dieser will, denkt oder fühlt. Deshalb sind Suggestivfragen („Glaubst Du im Ernst, dass …?“) oder Rhetorische Fragen („Wollen Sie nicht endlich damit aufhören?“) oft nicht hifreich. Günstig sind vor allem offene Fragen, also solche, die mehrere Antwortmöglichkeiten zulassen. Außerdem sollten die Fragen einfach sein, damit unser Gegenüber mit ihnen etwas anfangen kann und wir Antworten zu dem bekommen, was wir wissen möchten. Aus demselben Grund ist es besser, direkt zu fragen als indirekt und um die Ecke herum. Direkt zu fragen darf aber nicht heißen, zu bohren. Unser Gegenüber verdient den Respekt, Antworten auch zu verweigern. Das schließt nicht aus, dass wir später im Gespräch noch einmal an diese Stellen zurückkehren.
Wenn es darum geht, die mentalen Modelle unseres Gegenübers zu erkunden, sind systemische Fragen besonders hilfreich. Sie heißen deshalb so, weil sie dazu gedacht sind, dieses System aus Annahmen und Vorstellungen genauer zu untersuchen. Anders als in der Technik oder bei den Naturwissenschaften sollen systemische Fragen keine objektiven Wahrheiten ans Licht bringen. Es geht nicht darum, herauszufinden, was ‚wirklich wirklich wahr‘ ist, sondern was mein Gegenüber subjektiv für wahr hält. Die Fragen orientieren sich an dem oben skizzierten Verstehens- und Erlebenskreislauf und zielen auf den Zusammenhang aus Wahrnehmung => Erklärung => Bewertung. Mögliche Suchfelder sind
- Das Hier und Jetzt: „Was ist Deine Meinung zu …?“ „Wie schätzt Du die Situation bezüglich … ein?“ „Wie erklärst Du Dir das“? „Woran machst Du das fest“? „Welche Beobachtung liegt dem zugrunde?“
- Die Vergangenheit: „Was hast Du schon versucht?“ „Wie genau hast Du das gemacht?“ „Was ist dabei herausgekommen?“ Und wieder: „Wie erklärst Du Dir das?“
- Eine fiktive Zukunft, denken in Szenarien: „Angenommen, Du würdest dieses oder jenes tun, was käme Deiner Meinung nach dabei heraus?“ „Was würdest Du Dir wünschen?“ „Was würde wohl zum schlechtesten möglichen Ergebnis führen?“ Und wieder: „Wie erklärst Du Dir das?“
- Perspektivenwechsel: „Was denkst Du, würde dieser oder jener über die Situation denken?“ „Wie würde das Ihr Chef, Ihr Partner, Ihr bester Freund finden?“ Und wieder: „Woran machst Du das fest?“
- Konkretisierung von Allgemeinplätzen so, dass das Gemeinte deutlich wird wie in einem Filmausschnitt: „Was macht der Kollege genau, wenn er mal wieder spinnt?“ Oder „Was ist genau geschehen, weshalb die Party supertoll gelaufen ist?“
- Differenzierung, z.B. in Form von Skalen: „Wie toll war denn die Party zwischen 10 (supertoll) und 1 (super langweilig)?“ Oder: „Wie wichtig ist Dir das zwischen 5 (sehr) und 1 (gar nicht)?“
Systemische Fragen können gut miteinander kombiniert werden. Sie besitzen große Kraft, denn während unser Gegenüber sie beantwortet, wird sein Denken, seine Erklärungen und Bewertungen, für uns transparent. Das muss er nicht wollen oder gut finden. Schon deshalb ist es unabdingbar, dass der so Befragte mit dem Gespräch einverstanden ist. Nur wenn er Respekt und ein echtes Interesse an seiner Person spürt, wird er mitmachen. Schließlich kann auch ein Staatsanwalt oder ein anderer Ankläger so oder so ähnlich fragen, freilich mit anderer Zielsetzung.
Hilfreich und vertrauensbildend kann es sein, Gehörtes zwischendurch mit eigenen Worten zu wiederholen, und zwar das sachlich wie das emotional Verstandene. Dies hilft uns zu überprüfen, ob wir richtig verstanden haben, es hilft dem Gegenüber zu überprüfen, ob er es wirklich so meint wie er es gesagt hat, und es beweist ihm, dass wir gut zugehört, d.h. ihn ernst genommen haben.
Wenn es gelingt, sein Gegenüber ernst zu nehmen und es einigermaßen zu verstehen, heißt das natürlich nicht gleichzeitig, mit allen seinen Ansichten, Haltungen und Werten einverstanden zu sein. Es hilft aber sehr, den Diskurs zu versachlichen, denn er hat es nicht länger nötig, Energie zu mobilisieren, damit wir endlich verstehen. Auch das können wir anhand der eigenen Erfahrungen überprüfen: Es ist schwer, hoch emotional und aggressiv zu bleiben, wenn ich mich verstanden fühle. Eine gelungene Versachlichung des Diskurses erleichtert es zudem enorm, sich gegenseitig zu überzeugen und voneinander zu lernen.
Damit sind natürlich die skizzierten Probleme aufgrund der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen und der ungleichen Verteilung ihrer Früchte nicht gelöst. Dafür braucht es überindividuelle, strukturelle Maßnahmen. Jedoch führt ein Mehr an gegenseitigem Verständnis zu einem anderen Klima. Und vielleicht braucht es ein anderes Klima, um den Weg für nachhaltige strukturelle Lösungen frei zu machen.