23. Mai 2017

Homosexualität im Job oder: brauchen queere Menschen einen queeren Coach?

Mitte der neunziger Jahre, als ich begann als Managementcoach und Trainer zu arbeiten, war Homosexualität ein Thema, über das in Unternehmen höchstens hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde. In all den Workshops und Seminaren, die ich damals in ganz unterschiedlichen Unternehmen durchführte, traf ich keinen, der offen zu erkennen gab, homosexuell zu sein. Selbst in Coachingsituationen mit einzelnen Klienten kam es nur höchst selten vor, dass jemand offenbarte, schwul oder lesbisch zu sein – und wenn, dann ging es faktisch immer um Ängste und Sorgen, was passieren könnte, wenn das berufliche Umfeld davon erführe.

Diversity Programme und Netzwerke
In den gut zwanzig Jahren, die seitdem vergangen sind, ist viel in Richtung Gleichbehandlung und Normalisierung im Umgang mit queeren Menschen passiert – auch in Unternehmen. Es gibt fast kein größeres Unternehmen mehr, das nicht umfangreiche Diversity Programme fährt, die meistens auch mit dem Aspekt sexueller Vielfalt verbunden sind und Netzwerke für schwule und lesbische Mitarbeiter/innen anbieten. Selbst im Top Management haben sich Einzelne als schwul oder lesbisch geoutet. Und kaum jemand zuckt noch, wenn diese Worte fallen. Hier ist viel Entkrampfung passiert, und das ist gut so. Auch in Coachingsituationen erlebe ich heutzutage immer häufiger, dass Klienten, ohne größeren inneren Anlauf nehmen zu müssen, klar sagen, dass sie schwul oder lesbisch sind, auch wenn es andere Themen sind, für die sie das Coaching suchen.

Dass gleichwohl zu einer umfassenden Normalisierung des Umgangs mit Homosexualität im Job noch ein gutes Stück Weg zu gehen bleibt, ist offenkundig. Zwei kleine Beispiele dafür: In persönlichen Vorstellungsrunden zu Beginn von Seminaren und Workshops treffe ich auch heutzutage faktisch niemanden, der sich als schwul oder lesbisch outet. Manche sagen dann einfach nur „unverheiratet“ oder sie sagen zum Thema Partnerschaft und Familie gar nichts. Und es gibt zwar heutzutage mehr und mehr schwule und lesbische Manager/innen, die sich als solche auch offen zu erkennen geben. Die große Mehrheit von ihnen geht aber nach meiner Erfahrung mit diesem Thema nach wie vor sehr zurückhaltend um – nach dem Motto: „Ich lüge nicht, falls mich einer direkt fragen sollte, gebe aber von mir aus auch nichts Preis.“ Was übersetzt zum Beispiel heißt: Wenn der heterosexuelle Manager ganz selbstverständlich erzählt, dass er an diesem Wochenende mit seiner Frau zum Wandern in den Schwarzwald fährt, spricht der schwule Kollege stattdessen nur von sich bezogen auf den geplanten Schwarzwaldtrip und lässt seinen Partner dabei unerwähnt.

Ungewissheit, wie das berufliche Umfeld reagiert
Der Grund für diese Zurückhaltung ist heute weniger die Angst, auf offene Ablehnung zu stoßen, sondern eher die Ungewissheit, wie das berufliche Umfeld wohl insgesamt reagiert, wie sehr man/frau anschließend vor allem unter dem Label „homosexuell“ statt aufgrund erbrachter Leistung wahrgenommen wird und gelegentlich auch immer noch die Sorge, sich möglicherweise Karrierechancen zu verbauen. Als jemand, der im Laufe der Zeit viele Unternehmen kennengelernt hat, weiß ich, dass eine solche Vorsicht je nach Situation und Kontext gut begründet sein kann, auch wenn ich persönlich finde, dass jeder, der zu seiner queeren Sexualität offen und selbstbewusst steht, nicht nur für seine persönliche Gestaltungskraft, sondern auch für die gesellschaftliche Normalisierung im Umgang mit Verschiedenheit einen wichtigen Schritt leistet. Entscheidend ist hier aber immer das Schauen auf die individuelle Situation.

Und darum geht es ganz besonders auch im Coaching. Hier ist es für queere Menschen oft hilfreich, auf einen queeren Coach zu treffen, und das nicht nur, wenn es um Fragen des Umgangs mit der eigenen sexuellen Orientierung im eigenen Arbeitsumfeld oder um Fragen von Partnerschaft, Liebe und Sexualität geht. Auch wenn ganz andere Dinge im Fokus stehen, wie etwa die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeitssituation, persönliche Überlastung, Work Life Balance oder das Vorgehen als Führungskraft, können Zusammenhänge mit Themen wie Körperlichkeit, gelebter Sexualität, Partnerschaft etc. von großer Bedeutung sein.

Feldkompetenz für queere Lebenswelten
Natürlich ist die sexuelle Orientierung des Coachs allein kein hinreichender Faktor für ein erfolgreiches Coaching. Rein heterosexuellen Coaches oder Psychotherapeuten fehlt aber zumeist das, was man in der Fachsprache „Feldkompetenz“ nennt. Sie haben keine Erfahrung mit queeren Lebenswelten und den Herausforderungen queerer Identitätsfindung, die fast immer ein zentraler Teil der Lebensgeschichte von LGBT, also lesbischen, schwulen, bisexuellen oder transsexuellen Menschen sind und damit für Coachingprozesse zumeist von hoher Relevanz. Und oft fehlt es heterosexuellen Coaches und Therapeuten auch am elementarsten Wissen über Phänomene queerer Sexualität und Lebensweisen, so dass sie entsprechende Zusammenhänge oft gar nicht erkennen oder nicht wagen, sie anzusprechen. Als Coachee fühlt man/frau sich dann zwar nicht unbedingt abgelehnt, aber auch nicht wirklich verstanden.

Verstehen, Einfühlen und Ankoppelnkönnen an die Situation des Gecoachten ist allemal ein zentraler Erfolgsfaktor im Coaching, und sich als Coachee verstanden fühlen erst recht. Auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts macht es daher für viele Fragestellungen viel Sinn, wenn queere Menschen zu queeren Coaches gehen. Je persönlicher das Thema ist, umso mehr.

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


Individuelle Beratung unter +49 69 9399677-0 oder info@metrionconsulting.de

Diversity ist manchmal recht farbenfroh. Manche Leute verhalten sich, als wären sie proud to be hetero.

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting