15. Februar 2014

Zuviel ist zu viel - wenn positives Denken zur Gefahr wird

Positives Denken hat aus guten Gründen seit vielen Jahren Konjunktur. Weil die Zusammenhänge und Entwicklungen in unseren Umfeldern vielfältig und unüberschaubar geworden sind, ist es leicht, sowohl Negatives als auch Positives zu entdecken, und es gibt meistens seriöse Gründe, sowohl Negatives als auch Positives für die Zukunft zu erwarten. Allerdings: Je nachdem, wie man sich entscheidet, sind die Folgen sehr unterschiedlich. Wer sich entscheidet, auf das Positive zu setzen, gewinnt normalerweise ein besseres Lebensgefühl, mobilisiert mehr Energie und erhöht alleine durch seine Erfolgserwartung die Wahrscheinlichkeit persönlicher Erfolge. Dafür sorgt u.a. ein vergleichsweise beherzteres Handeln in solchen Situationen, unterstützt und befeuert durch selektive Wahrnehmung: Wir erkennen gewöhnlich das, was wir zu erkennen erwarten. Und kleinste Hinweise darauf, dass unser Optimismus berechtigt ist, bestärken uns in unserer Haltung, gegenteilige Hinweise übersehen wir gerne oder spielen sie in ihrer Bedeutung herunter. Dieselben Überlegungen gelten natürlich auch umgekehrt. Wer Negatives erwartet, wird auch darin Bestätigung finden. Je nachdem, wie unsere Entscheidung ausfällt, werden selbsterfüllende Prophezeiungen ins Laufen kommen.

Die Erkenntnis, dass positives Denken Erfolge wahrscheinlicher macht, rief eine große Welle an Ratgebern und Literatur zu allgemeinen Lebenshilfen hervor, meist in der Tradition von Carnegie, Peale oder Murphy, sowie großformatige Motivationskongresse mit Erfolgspredigern wie Jürgen Höller oder Jörg Löhr. Googelt man „Positives Denken“, gerät man umstandslos auf Webseiten mit Botschaften wie „Positives Denken ist die Lösung aller Probleme der Menschheit und der Welt“ oder „Sie können alle Ihre Probleme augenblicklich lösen und ein Leben in Frieden, Harmonie und Glück führen, wenn Sie das Positive Denken richtig anwenden! Und ebenso lösen sich damit alle Weltprobleme auf: Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, Kriege und Konflikte – sie alle haben nur eine gemeinsame Ursache: Negatives Denken!“ (zu finden auf http://positives-denken.org)

Offensichtlich sind das groteske Übertreibungen. Allerdings sind sie nicht nur grotesk, sondern auch gefährlich. Positives Denken wird geradezu als Heilslehre verkauft. Wer nur konsequent positiv denkt, der soll nahezu alles erreichen können, was er sich wünscht. Solcher Machbarkeitswahn wird getragen von Parolen, die behaupten, es gäbe allgemeine und einfache Lösungen für alle möglichen Schwierigkeiten und Probleme dieser Welt, und seien sie noch so spezifisch. Schwarz-Weiß-Denken tritt an die Stelle von realistischem, differenziertem Denken. Negatives Denken wird verboten, was unter anderem zu der paradoxen Situation führt, dass sich gerade deshalb immer wieder negative Gedanken in die Köpfe einschleichen. Versuchen Sie einmal, auf gar keinen Fall, wirklich überhaupt nicht, niemals an einen blauen Elefanten zu denken! Geht das? Wahrscheinlich nicht. Es wirkt das psychologische Gesetz der entgegengesetzten Wirkung: Was ich ganz besonders nicht will, wird in der Regel eintreten, und was ich ganz besonders will, wird in der Regel nicht eintreten. Wer sich also sehr anstrengt, positiv zu denken, mit geradezu religiösem Eifer, wird bald darauf mit einiger Wahrscheinlichkeit von sich selbst enttäuscht sein und es mit Versagensgefühlen und schlechtem Gewissen zu tun bekommen. Wenn die angestrebten Erfolge ausbleiben, wird die Schuld bei sich selbst gesucht: Die Anstrengung war zu klein oder der Glaube an das Positive zu schwach. Das Problem wird auf diese Weise personalisiert, was eine enorme Komplexitätsreduktion bedeutet, allerdings zulasten des sich so sehr Bemühenden.

Was die einschlägigen Ratgeber und Erfolgsgurus unterschlagen, ist unter anderem die Tatsache, dass negative Gedanken und Gefühle eine durchaus sinnvolle Funktion haben können. Ärger, Wut und Aggression sorgen beispielsweise für die eigene Selbstbehauptung, Enttäuschung und Zweifel für Erdung, Trauer für die Verarbeitung von Verlusten und Konflikten. Wer unfähig ist, Schicksalsschläge, herbe Verluste und Misserfolge zu verarbeiten, der muss seine Gefühle mit viel Kraft unterdrücken, was längerfristig zur Folge hat, dass er emotional abstumpft oder depressiv wird.

Die Einseitigkeit, nur Positives zu betrachten und ausschließlich positiv zu denken, kann zwanghaft werden und ist im Grunde eine rigorose Verdrängungsmethode. Autosuggestionen können aber weder eine Realität neu erschaffen noch die bestehende Realität direkt verändern. Zudem: Verdrängtes, das sich nicht vollständig verdrängen lässt, wird in der (klammheimlichen) Vorstellung immer schrecklicher. Wer es dagegen schafft, dem scheinbar so Schrecklichen offen ins Gesicht zu schauen, wird oft feststellen, dass es tatsächlich nicht schön, aber aushaltbar und irgendwie händelbar ist. Die Schrecklichkeit des Nicht-Denkbaren ist ein Produkt unserer eigenen (Horror-) Phantasie und unserer eigenen Situationsbewertung.

Viele Existenzgründer haben die Folgen übertrieben positiven Denkens erfahren, indem sie sich aufgrund einer allzu optimistischen Zukunftsbetrachtung nachhaltig ruiniert haben. Dasselbe gilt für manche Börsenspekulanten. Die Katastrophe von Tschernobyl liefert ein weiteres Beispiel für die allzu sorglose Ausblendung von Realitätsausschnitten, oder auch der Übermut von manchen Jugendlichen, deren Leichtsinnigkeit zu üblen Unfällen geführt hat. Wenn alles Kritische und Alarmierende aus unserer Wahrnehmung und unserem Denken herausgefiltert wird, mit dem Ziel, unseren naiven Optimismus behalten zu können, werden wir über kurz oder lang direkt gegen eine Wand fahren oder diese Wand erst dann erkennen, wenn es zu spät ist.

Um Risiken rechtzeitig und deutlich zu sehen, empfiehlt sich deshalb ein strikter Realismus. Allerdings hat auch dieser seinen Preis: Daniel Kahnemann, Sozialpsychologe und Nobelpreisträger von 2002, stellt fest, dass wir die Erfolgswahrscheinlichkeit von Aktivitäten, mit denen wir uns sehr stark identifizieren, die wir unbedingt erfolgreich abschließen möchten, systematisch überschätzen, dass wir allerdings ohne manchen übergroßen Optimismus auch Vieles nie erreicht hätten, weil wir aus Vernunftsgründen gar nicht erst angefangen hätten oder auf der Strecke umgekehrt wären.

Offensichtlich ist jede Einseitigkeit ungünstig, absoluter Optimismus genauso wie absoluter Skeptizismus. Für Pessimismus und Miesepeterei wird kaum jemand offen plädieren, aber wieviel Optimismus ist tatsächlich sinnvoll?

Aus diesen Überlegungen lässt sich folgendes ableiten: Ein durchgehender optimistischer Grundton, der mit Energie und Lebensfreude einhergeht, ist sicherlich gesund und erfolgsfördernd. Allerdings muss zu diesem gesunden Optimismus etwas hinzukommen, vor allem Realitätssinn, ein gutes Gefühl für die eigenen Fähigkeiten, eine rationale Risikoabwägung sowie die Bereitschaft, ständig hinzuzulernen.

Für die praktische Umsetzung bieten sich zum Beispiel die Walt-Disney-Methode oder die dahinterstehenden „Denkhüte“ von De Bono an. Beides sind eigentlich Kreativitätstechniken. Sie gründen auf der Idee, verschiedene Denkweisen und Blickwinkel ins Spiel zu bringen, um einen möglichst breiten Diskurs zu einem bestimmten Themengebiet zu ermöglichen. Bei der Disney-Methode treten drei Figuren auf:

  • Der Träumer: ein enthusiastischer Visionär, grenzenlos positiv, aber ohne Ideen, wie die Dinge praktisch anzugehen sind.
  • Der Realist: ein Pragmatiker, der nüchtern Aktivitätspläne entwickelt, die notwendigen Arbeitsschritte festlegt und die Voraussetzungen für ihren Erfolg untersucht.
  • Der Kritiker: ein Skeptiker, der nach Haaren in der Suppe sucht und auf diese Weise mögliche Fehlerquellen identifiziert.

Bei De Bono kommen sechs Perspektiven ins Spiel, die ebenfalls für bestimmte Denkweisen und Einstellungen stehen:

  • Analytisches Denken: Tatsachen und logische Zusammenhänge
  • Emotionales Denken: Gefühle und subjektive Meinungen
  • Kritisches Denken: systematische Schwarzmalerei
  • Optimistisches Denken: das „Best-Case-Szenario“
  • Kreatives, assoziatives Denken: die Dinge einmal ganz anders sehen
  • Ordnendes, moderierendes Denken: Überblick herstellen; das Big Picture

Bei De Bono werden die sechs Perspektiven von unterschiedlichen Vertretern wahrgenommen, die jeweils unterschiedlich farbige Hüte tragen. Beide Methoden eignen sich vor allem für Gruppen. Allerdings lässt sich die Grundidee mit einiger Disziplin und Konzentration auch alleine umsetzen. Man muss dann mehrere Selbstgespräche hintereinander durchführen und das so Ausgesprochene anschließend auf sich wirken lassen. Eine Variante besteht darin, sich selbst in gewissen Abständen Briefe zu schreiben, und zwar aus den jeweiligen Perspektiven heraus. Eine noch bessere Möglichkeit ist ein Zweiergespräch mit einem guten Freund oder einem Kollegen als Sparringspartner. Dieser kann zum Beispiel ein Interview mit dem Ratsuchenden durchführen, entlang der verschiedenen Perspektiven, oder er kann selbst versuchen, den einen oder anderen „Hut“ aufzusetzen. Oder er spielt einfach einen „Advocatus Diaboli“.

Positives Denken kann dazu beitragen, ein gutes Lebensgefühl zu entwickeln und Erfolge zu erzielen. Aber wie in den meisten Lebensbereichen gilt auch hier: Zuviel ist zu viel. Die günstigste Herangehensweise basiert auf einem starken Optimismus, der nicht aufgesetzt ist, sondern auf Erfahrungen basiert und von entsprechenden inneren Einstellungen gestützt wird, begleitet von einem ausgeprägten Realitätssinn, der sich nicht scheut, auch unangenehmen Möglichkeiten ins Auge zu schauen und sie aktiv anzugehen. Wer so unterwegs ist, hat gute Chancen, selbsterfüllende Prophezeiungen in die richtige Richtung auszulösen und dabei nicht von ausgeblendeten Teilen der Wirklichkeit unangenehm überrascht zu werden.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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Wolfgang Reiber - Partner im Ruhestand, Metrion Management Consulting