15. Juni 2017

Zum Sinn von Konflikten in Organisationen

Konflikte sind so natürlich und allgegenwärtig wie das Wetter, aber sie werden von den wenigsten Menschen gemocht. Eine deutliche Mehrheit würde Einklang und ein harmonisches Miteinander, z.B. in Organisationen, klar vorziehen, wenn das möglich wäre. Konflikte bedeuten Stress, bei den einen weniger, bei den anderen mehr, und emotional besteht bei vielen von uns die Tendenz zur Konfliktvermeidung. Es braucht häufig Vernunft und einen inneren Ruck, um sich ihnen bewusst und freiwillig zu stellen. Organisationen sind jedoch genau darauf angewiesen, denn Konflikte sichern ihre Vitalität und ihr Überleben. Der Sinn von Konflikten in Organisationen liegt in den folgenden Funktionen:

Differenzierung: Wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft allzu sehr auf einer Linie sind, im Handeln wie im Denken, stellt sich bald eine Art kollektive Verblödung ein. Die komplexe Natur der Wirklichkeit findet im Inneren der Gemeinschaft keine Entsprechung mehr: Man weiß genau, was Sache ist, die Welt hat nur mehr schwarz oder weiß zu bieten, und es gibt zu allen Fragen genau ein „Richtig“. Widerspruch (Differenzierung) birgt die Chance einer realitätsgerechteren Sicht für alle, er kann die reale Komplexität „draußen“ sichtbar und damit bearbeitbar machen. Dieser Gedanke findet eine Entsprechung in den modernen mehrdimensionalen Organisationsformen (z.B. Sparten-, Matrix-, Tensor-, Projekt-, Prozess- oder Netzwerkorganisationen). Sie setzen auf Perspektivenvielfalt und Eigenverantwortung und haben damit ein ständiges Konfliktpotenzial eingebaut. Solche mehrdimensionalen Organisationsformen können freilich nur funktionieren, wenn die beteiligten Personen konfliktfähig sind.

Selektion: Zu der beschriebenen unterschiedsvermittelnden Funktion von Konflikten kommt die Idee des Wettbewerbs. Über den Konflikt wird festgestellt, welche Idee oder Meinung situativ die richtige oder die beste ist. Was bedeutet das aber im konkreten Einzelfall? Geht es bei der Konfliktlösung um das pure Gewinnen, um einen Kampf auf Biegen und Brechen, notfalls mit allen Mitteln? In der Praxis ist dieses Verständnis – ausgesprochen oder unausgesprochen – durchaus anzutreffen. „Verliererpositionen“ müssen aber nicht unbedingt die schlechteren Argumente auf ihrer Seite haben. Zumindest liegen sie oft in der Sache nicht völlig falsch. Jedoch verschwinden alle eventuell brauchbaren Argumente, Aspekte und Ideen mit der unterlegenen Position. Darüber hinaus sind massive Beziehungsstörungen und Vertrauensverluste häufig die Folge. Produktiver als ein Kampf ums Gewinnen ist ein Dialog, in dem jeder der Beteiligten seine Position kraftvoll und offensiv vertritt, die Positionen der anderen aber mit derselben Energie zu erforschen, d.h. sachlich wie emotional zu verstehen versucht. Eine spontane, eher aus einem „Bauchgefühl“ heraus vertretene Meinung kann goldrichtig sein, ohne dass der Betreffende sofort imstande sein muss, sie im Detail umfassend und logisch zu begründen. Eine gemeinsame Anstrengung zum besseren Verständnis der verschiedenen Positionen, mit einer grundsätzlich ergebnisoffenen Haltung, kann für alle zum Vorteil werden.

Vergemeinschaftung: Widerspruch und gelebte Individualität machen das Organisationsleben bunter und innovativer. Damit die Organisation aber dennoch hinreichend geschlossen nach außen auftritt und sich die Aktivitäten der Organisationsmitglieder bzw. der Organisationsteile nicht gegenseitig aufheben oder blockieren, braucht es ein genügend hohes Maß an Einheitlichkeit. Deshalb müssen die bestehenden Unterschiede mit Hilfe des Konfliktes zumindest einigermaßen auf Gruppen- oder Organisationslinie gebracht werden. Diese einheitsstiftende Funktion von Konflikten steht der oben genannten unterschiedsvermittelnden Funktion gleichwertig gegenüber.

Weiterentwicklung durch Überwindung von Widersprüchen: Wenn es gelingt, unterschiedliche Meinungen, Positionen und Bedürfnisse wahrzunehmen (anstatt sie zu übersehen), ernst zu nehmen (anstatt sie herunter zu spielen) und im Sinne des Ganzen zu lösen (anstatt eindimensionale Gewinner-Verlierer-Spiele zugunsten einzelner zu betreiben), dann kann die Organisation lernen, d.h. sich ändernden Bedingungen anpassen und gleichzeitig dem Umfeld ihren Stempel aufdrücken.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist – wie oben bereits angedeutet - die Konfliktfähigkeit der beteiligten Personen. Sie kann zum Flaschenhals der Unternehmensentwicklung werden. Mangelnde Konfliktfähigkeit kann ihre Ursache in der Unternehmenskultur haben: Welches Verhalten wird überhaupt wahrgenommen, welches belohnt oder bestraft? Auf der individuellen Ebene ist für Konfliktfähigkeit die jeweils ganz persönliche Lebens- und Lerngeschichte entscheidend. Hinzu kommt – verstärkend oder beeinträchtigend – das jeweils subjektiv empfundene Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Hierauf hat das Management großen Einfluss und sollte dementsprechend positiv einwirken.

Konflikte sind für Organisationen überlebensnotwendig. Ein Zuwenig kann schädlich sein, weil dies zu einem allgemeinen Mangel an „Drive“ und Innovation führen kann. Vorgesetzte, die sich aus eigentlich positiven Gründen wie ein Prellbock vor ihre Mitarbeiter stellen, um sie möglichst weitgehend vor Spannungen und Konflikten zu schützen, tun damit sich, ihren Mitarbeitern und auch ihren Organisationen unter Umständen keinen Gefallen. Umgekehrt kann jedoch auch ein Zuviel an Konflikten Schaden bringen. Mitarbeiter können überfordert und dadurch blind aggressiv werden oder sie können - aus Selbstschutzgründen - geistig und emotional abstumpfen. Zu viele Konflikte führen grundsätzlich zu einem Mangel an Stabilität und emotionaler Sicherheit.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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Das In-Erscheinung-Treten von Konflikten wird oft als Problem gesehen. Probleme entstehen aber viel eher dann, wenn Konflikte nicht in Erscheinung treten.

Pia Gaspard - Partnerin, Metrion Management Consulting