15. November 2016

Wenn alles bunter, schneller und komplexer wir, wie gehen dann Führung und Zusammenarbeit?

Technologien, Gesellschaften und Märkte verändern sich rasant. Die Unternehmen passen sich an und treiben damit gleichzeitig die Veränderungen im Umfeld mit an. Strategien, Strukturen, Prozesse, die alltäglichen Praktiken – alles kommt auf den Prüfstand. Damit ändern sich auch die Führungskultur und die Art und Weise der Zusammenarbeit im Unternehmen.

Es geht in den Unternehmen vor allem um Flexibilität, Tempo und Innovation. Dafür ist es nötig, noch mehr Engagement im Unternehmen zu wecken, das vorhandene Wissen stärker zu aktivieren und Kreativität zu entfalten. Selbstorganisation ist ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang. In der Folge werden die Unternehmen tendenziell flacher und netzwerkartiger. Weil die erforderlichen Anpassungen nicht überall gleichzeitig und in gleicher Weise erfolgen, werden die Unternehmen zugleich inhomogener und in sich widersprüchlicher. Viele der bis dahin für selbstverständlich gehaltenen unternehmensweiten Regularien und Standards verschwinden oder werden aufgeweicht. Bürokratie, die oft nur Kontrollzwecken dient, und administrative Aufgaben werden reduziert oder an andere, z.B. externe Lieferanten, weitergereicht. Die formale, in Organigrammen abgebildete Hierarchie wird insgesamt zurückgedrängt. Es gibt sogar Überlegungen, sie komplett abzuschaffen und in diesem Zusammenhang das Topmanagement von der Letztverantwortung zu befreien (siehe z.B. Frederic Laloux: „Reinventing Organizations“, Brussels 2014), aber dies erscheint schon aus rechtlichen Gründen äußerst unrealistisch. Außerdem würden wohl die meisten Shareholder nicht mitspielen aus Angst vor einer allgemeinen Verantwortungsdiffusion. Dennoch: Wenn die unterschiedlichsten Ansätze und die spezifischen lokalen Lösungen die unternehmensinterne Landschaft immer bunter und unübersichtlicher machen, laufen die bekannten Formen von Überwachung, Kontrolle und Machtausübung ins Leere. Die Identifikation der Beteiligten mit ihren Aufgaben und vor allem das Vertrauen untereinander werden umgekehrt immer wichtiger und letztendlich zu dem Kitt, der die Unternehmen am Laufen und weitestgehend zusammenhält.

Um in den gegebenen turbulenten Zeiten erfolgreich zu sein, sind Unternehmergeist und Führung, Fachlichkeit und Management erforderlich. Diese Begriffe bzw. Funktionen sind nicht neu, jedoch haben sich teilweise ihre Inhalte, deren relative Bedeutung sowie deren Verteilung auf die beteiligten Personen bzw. Rollen verändert. Mit Unternehmergeist und Führung sind u.a. Lust am Gestalten sowie am Tun und Ausprobieren gemeint, außerdem ein „Näschen“ für heraufziehende Chancen, deren beherztes Nutzen und über allem das Vorangehen mit Inspiration und Bestimmtheit sowie mit ausgeprägtem Teamgeist. Fachlichkeit schließt neue, vor allem digitale Technologien mit ein. Und Management ist heute weit mehr als nur der klassische Kreislauf aus Ziele setzen, Planen, Organisieren, Umsetzen (lassen) und Kontrollieren. Hinzu kommen u.a. moderne Ansätze wie agile Methoden, Design Thinking oder Effectuation.

Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war ziemlich klar, dass alle diese Funktionen sich in der Rolle der Führungskraft zu konzentrieren haben. Der Chef war natürlich der beste Fachmann, vor allem deshalb war er ja auch Chef geworden. Aus demselben Grund oblag ihm auch die Führung seiner Einheit. Die Vorbilder für seine Führungstätigkeit kamen häufig aus dem militärischen Bereich. Management spielte in diesen vergleichsweise ruhigen und stabilen Zeiten eine eher untergeordnete Rolle. Natürlich haben Führungskräfte auch schon früh delegiert, neben dem Umsetzen ihrer Ideen auch manche Planungs- und Organisationsthemen. Zielsetzung und Kontrolle sowie allgemein die Bewertungs- und Entscheidungskompetenz blieben jedoch fast überall alleinige Chefsache. Die Mitarbeiter sollten im Wesentlichen frag- und klaglos das tun, was sie aufgrund von mehr oder weniger klaren Anweisungen tun sollten.

In diese Aufteilung von Funktionen und Arbeitsthemen ist in den letzten Jahren Bewegung gekommen, und es scheint, dass sie sich fortsetzt und beschleunigt. Ihren Ausdruck findet dies darin, dass Führungskräfte immer größere Teile ihrer ursprünglichen Zuständigkeiten abgeben bzw. delegieren.

Zuerst verloren viele Führungskräfte, insbesondere die höheren, ihren Nummer Eins–Status im fachlichen Bereich. Durch die immer weiter zunehmende Komplexität und durch die Vervielfachung des Wissens in den meisten Disziplinen (Stichwort: Wissensexplosion) konnten auch die klügsten und kenntnisreichsten unter ihnen den Spezialisten in ihren eigenen Bereichen nicht mehr folgen. Sie konzentrierten sich stattdessen auf Management, was in der Zwischenzeit zu einer eigenen Wissensdisziplin geworden war. Aber auch ihr zeitweiliges Monopol auf diesem Gebiet hielt nicht lange. Um die Fähigkeiten der Spezialisten im Unternehmen stärker nutzen zu können, wurden diese aufgefordert, immer mehr eigeninitiativ zu handeln, eigene Themen zu treiben und sich in weiten Teilen selbst zu organisieren und zu managen. Dies geschah und geschieht zunehmend in informellen, kurzfristig zusammengesetzten Teams, in Task Forces oder in teilautonomen Entwicklungs- und Projektgruppen. Dort gibt es gewöhnlich keine Formalhierarchie, Führung und Unternehmergeist sind dennoch gefragt und natürlich auch Management. 

Was bleibt angesichts dieser Entwicklung für Führungskräfte übrig? Wofür werden sie heute und in Zukunft überhaupt noch gebraucht?

Ihre Abschaffung ist nicht in Sicht, und es ist auch nicht abzusehen, dass sie sich zu zahnlosen Tigern wandeln werden. Führungskräfte werden zumindest bis auf weiteres die Gesamtverantwortung für ihre Zuständigkeitsbereiche behalten, was bedeutet, dass sie auch ihre letztendliche Bewertungs- und Entscheidungskompetenz behalten werden. Entsprechend ihrer Gesamtverantwortung müssen sie für alle materiellen und immateriellen Ergebnisse sowie für den jeweils aktuellen Fitnesszustand ihrer jeweiligen Bereiche gerade stehen, unabhängig davon, welche direkten oder indirekten Steuerungsmöglichkeiten sie besitzen. Aus diesem Grund werden sie auch weiterhin delegierte Aufgaben wieder zurücknehmen und Entscheidungen ihrer Mitarbeiter überstimmen können. Orientierung und Anweisungen geben, Rahmenbedingungen setzen, Verhalten sanktionieren - das wird auch in Zukunft zum Alltag einer Führungskraft gehören. Teil der alltäglichen Herausforderungen wird es aber sein, einen bunten und in sich widersprüchlichen Rollenmix situativ ausbalanciert zu bekommen. Wie kann beispielsweise eine Führungskraft, und sei es auch nur zeitweise, direktiv und zumindest in der Wahrnehmung ihrer Mitarbeiter fordernd, kritisierend und durchsetzungsorientiert daherkommen, ohne gleichzeitig deren Kreativität und deren dringend benötigte Bereitschaft, sich mit aller Kraft und unter Einsatz allen Wissens und Könnens um die Lösung unternehmensinterner Probleme zu kümmern, zu schwächen? Einsatz und Kreativität sollen doch qua Delegation gerade gestärkt werden. Die höchste Problemlösungskompetenz erreichen Menschen bekanntlich dann, wenn sie aus freien Stücken und mit innerer Überzeugung an ihre Arbeit gehen. Der Schlüssel liegt im ständigen Dialog und im guten Kontakt mit den Mitarbeitern, auch dann, wenn es Meinungs-, Einschätzungs- und Interessensunterschiede gibt. Wenn Führungskräfte transparent sind in Bezug auf ihre eigene Situation und in Bezug darauf, was sie denken und wollen, wenn sie im Miteinander als ehrlich und authentisch wahrgenommen werden, als berechenbar, fair und wertschätzend, kann Vertrauen entstehen. Und Vertrauen ist die Grundvoraussetzung für jede Form der Delegation – Vertrauen darauf, dass der Mitarbeiter willens und fähig ist, die Aufgaben mit guter Qualität zu erledigen, und Vertrauen darauf, dass der Vorgesetzte es mit der Delegation so meint wie er es sagt.

Weil Vorgesetzte immer mehr Themen mitsamt einer gewissen Bewertungs- und Entscheidungskompetenz an ihre Mitarbeiter delegieren, hat sich das Kerngeschäft im Führungsprozess zum Coaching verschoben. Coaching bedeutet im Wesentlichen die Begleitung und Unterstützung von Mitarbeitern als Hilfe zur Selbsthilfe. Coaches sind wertschätzende und im besten Sinne kritische Sparringspartner. Führungskräfte werden damit von Befehlsgebern alten Schlages zum Ermöglicher von Leistung und Kreativität. 

Die Vorteile liegen auf der Hand: Mitarbeiter können sich selbst voll einbringen und gleichzeitig von der Erfahrung, dem Wissen und der Intelligenz ihrer Vorgesetzten profitieren, und die Vorgesetzten behalten zumindest einen groben Überblick und indirekt auch ein wenig Kontrolle. Allerdings: Vorgesetzte haben nicht mehr alles in der Hand, und die Verführung ist groß, sofort zu intervenieren, sobald der Mitarbeiter etwas anders macht als man es selbst tun würde. Der Preis freilich wäre hoch: Der Mitarbeiter würde sofort anfangen, sich taktisch zu verhalten, so wie in einer Hierarchie weithin üblich. Seine Motivation und damit seine Problemlösungsfähigkeit würden sinken. Coaching bedeutet nicht, kunstvoll herumzulavieren, nur um am Ende vom Mitarbeiter Recht zu bekommen, sondern vor allem zuhören, fragen, klären und Feedback geben. Dafür ist eine vertrauensvolle und in der Sache ergebnisoffene Haltung auf Augenhöhe erforderlich. Die Schwierigkeit dabei: Das Verhältnis Führungskraft / Mitarbeiter ist nach wie vor asymmetrisch, weil die Rolle des Vorgesetzten machtvoller ist. Diese strukturell nicht auflösbare Asymmetrie kann lediglich vorübergehend ausgeblendet oder in den Hintergrund gedrängt werden, wenn die menschliche Beziehung zwischen den Gesprächspartnern stimmt.

Mitarbeiter sind heute im Allgemeinen besser ausgebildet als noch vor wenigen Jahren und Jahrzehnten. Vor allem diejenigen unter ihnen mit besonderen fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, die sogenannten Fachexperten, sind für den Unternehmenserfolg und die Unternehmensentwicklung immer wichtiger geworden. Auch sie müssen mittlerweile einen komplizierten Rollenmix ausbalancieren, denn ihr Aufgabenspektrum hat sich bekanntlich deutlich erweitert: Fachexperten sind heute u.a. hochqualifizierte Sachbearbeiter, Berater von Vorgesetzten, Kollegen oder Kunden, Teamplayer, Wissensvermittler, Entscheider (im vorab delegierten Umfang) und Entscheidungsvorbereiter. Sie setzen selbständig Themen um und sie treiben aufgrund ihrer speziellen Expertise selbständig und eigeninitiativ neue Themen voran. Ihre Kernaufgabe besteht darin, ihr Wissen mit anderen zu teilen und in relevante Entscheidungsprozesse einzubringen. Durch ihre fachbezogene Brille können sie Chancen und Risiken für ihr Unternehmen erkennen, die andere mangels fachlicher Kompetenz nicht sehen können. In diesem Sinne handeln sie als Co-Unternehmer.

Immer mehr Zeit verbringen Fachexperten in interdisziplinär und cross-funktional zusammengesetzten Teams. Dort treffen sie auf neue und besondere Herausforderungen. Nicht wenige Spezialisten interessieren sich nur für wenig außerhalb ihres eigenen Fachbereiches. Gefragt sind heute jedoch Teamspieler, die über die Grenzen ihres Fachbereiches hinausschauen wollen und können, die einen Blick haben für die fachlichen Nebendisziplinen, die politisches Gespür besitzen, die Beziehungen und die Gruppendynamik konstruktiv (mit-)gestalten können. Die Aufmerksamkeit des Fachexperten ist auf ganz unterschiedlichen Ebenen gefordert, und auch ihr Auftreten ist wichtig. Um erfolgreich zu sein, müssen Fachexperten z.B. bestimmt und selbstbewusst auftreten, nicht aber selbstgerecht und besserwisserisch, sie müssen eigene Positionen vertreten und verteidigen, aber auch loslassen und sich überzeugen lassen können, sie müssen den teaminternen Wettbewerb annehmen, ihn aber nicht auf die Spitze treiben, weil sonst das Klima vergiftet wird, sie müssen Konflikte aushalten und konstruktiv gestalten können. Das alles setzt große persönliche Reife und soziale Kompetenzen voraus. Diese neuen Anforderungen, persönliche Reife und soziale Kompetenzen, teilen sich Fachexperten mit ihren Vorgesetzten. So wie die Welt um uns herum bunter und komplexer wird, werden auch die unternehmensinternen Rollen bunter und komplexer, und in diesem Zusammenhang werden auch die Anforderungen an alle Beteiligte bunter und komplexer. 

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


Individuelle Beratung unter +49 69 60 60 55 60 oder info@metrionconsulting.de

Das Kerngeschäft im Führungsprozess wird Coaching sein.

Wolfgang Reiber - Partner im Ruhestand, Metrion Management Consulting