Wie wir die Welt erleben, hat einen starken Einfluss darauf, wie es uns geht. Das berühmte halb volle oder halb leere Glas, das einer sieht, gibt hierfür ein deutliches Bild. Und natürlich hat die Art und Weise, wie man die Dinge erlebt – eben ob einem das Glas z.B. halb voll oder halb leer erscheint – starken Einfluss auch darauf, wie es in einer Situation, einer Interaktion oder einer Beziehung weitergeht. Wenn ich das Verhalten meines Gegenübers als plump-übergriffig erlebe, werde ich meinem Gegenüber wahrscheinlich anders begegnen, als wenn ich das gleiche Verhalten als Zeichen des echten Interesses und der Fürsorglichkeit gegenüber meiner Person auffasse. Und je nachdem, wie ich mich dann verhalte, wird natürlich auch mein Gegenüber anders reagieren, was bei mir wiederum zu weiteren Interpretationen führt, z.B. „wusste ich doch, dass er wieder nur versucht mir vorzuschreiben, was ich tun soll“ oder „wenn ich ein Problem habe, weiß ich, dass ich wirklich zu ihm kommen kann,“ was dann erneut bestimmte Verhaltensweisen bei mir, bestimmte Reaktionen meines Gegenübers, eine bestimmte Art des Situationserlebens hervorruft usw.
So wie das, was wir erleben, uns zu bestimmten Interpretationen führt, so führen unsere Interpretationen also umgekehrt auch zu bestimmten Erlebnissen. Wie die Beziehung zu einem Kunden, einem Mitarbeiter oder meinem Chef sich entwickelt, wie spannend oder unspannend die Aufgabe ist, die ich gerade mache, wie ergiebig oder unergiebig das Meeting sein wird, in dem ich mich befinde, hat immer auch damit zu tun, wie ich das jeweilige Geschehen gerade auffasse, einordne und bewerte. So gesehen ist die Art, wie ich die Welt interpretiere, ganz maßgeblich dafür, wie die Welt jeweils für mich aussieht und was in ihr geschieht.
Das Wunderbare ist: dies alles passiert ganz wie von selbst. Wir müssen uns nicht darum bemühen, die Dinge zu interpretieren, wir tun es einfach – und in aller Regel merken wir noch nicht mal, dass wir es tun. Unser Bild ist: „Der Kollege ist hilfsbereit“. „Der Kunde ist arrogant“ „Mein Chef ist ein seltsamer Vogel“ etc. Dass unsere Interpretationen in der großen Mehrzahl der Fälle so selbstverständlich und mit dem Anschein „So ist es“ erfolgen, hat den großen Vorteil, uns innere Orientierung, Entscheidung und Handlung auch im schnellen Fluss des Geschehens effektiv zu ermöglichen. Gleichzeitig liegt in dem Unbemerkt- und Unhinterfragtsein unserer Interpretationen aber offenkundig auch größeres Potenzial für Missverständnisse, Missstimmungen, sich selbst erfüllende Negativ-Prophezeiungen, Enttäuschungen und Eskalationen.
Ein gutes Mittel, wie man solche Risiken reduzieren und umgekehrt die Chance auf positive und produktive (Inter-)Aktionen erhöhen kann, ist, drei elementare Zugangsweisen zu unserem Welt-Erleben bewusst registrieren und differenzieren zu können, nämlich Wahrnehmen, Erklären und Bewerten. Wir nehmen Dinge wahr, und das meint hier: wir erfassen sie mit unseren Sinnen. Z.B. sehe ich, dass bei dem Kunden, den ich besuche, Broschüren und Material von unserem Wettbewerber auf dem Tisch liegen, ich höre seit gut 10 Minuten einen hochfrequenten Piepton in meinen Ohren, ich nehme wahr, dass mein Chef, während ich mit ihm spreche, wiederholt in Richtung der Wand hinter mir schaut. All dies ist beobachtbar.
Natürlich ist dabei auch Wahrnehmung niemals frei von Wertungen. Schon allein dadurch, worauf man seine Wahrnehmung lenkt, finden Akzentsetzungen und damit in gewisser Weise Wertungen statt: Lenke ich meinen Blick auf die Broschüren vom Wettbewerber, die bei meinem Kunden liegen, sein Lächeln während er mich begrüßt oder den sonnenbeschienenen Park jenseits des Fensters, vor dem er gerade steht. Je nachdem was ich fokussiere, nehme ich Weichenstellungen vor für das Bild, das ich bekomme mitsamt all den Eindrücken, Gefühlen, Reaktionen etc. die sich damit verbinden. Nichtsdestotrotz: das, worauf sich die Wahrnehmung bezieht, kann grundsätzlich auch von anderen oder auf andere Weise, z.B. durch technische Geräte wie etwa eine Kamera oder ein Tonband erfasst und nachvollzogen werden. Wahrnehmung ist damit diejenige der drei Zugangsweisen, die am stärksten Vergleichbarkeit und Intersubjektivität ermöglicht.
Zu dem, was wir wahrnehmen, bilden wir explizit oder implizit, deutlich oder undeutlich, bewusst oder unbewusst Hypothesen, d.h. wir versuchen uns in bestimmter Weise einen Reim auf das zu machen, was geschieht. Z.B. kann ich denken, dass dieser Kunde Broschüren und Material vom Wettbewerber bei sich liegen hat, weil er mit diesem Wettbewerber so eng verbunden ist. Den hochfrequenten Piepton, den ich höre, kann ich für ein stressbedingtes Ohrgeräusch oder einen beginnenden Tinnitus halten. Dass mein Chef, während ich spreche, mehrfach in Richtung der Wand hinter mir schaut, kann ich mir so erklären, dass das, was ich ihm zu sagen habe, ihn nicht interessiert. All diese Hypothesen kann man bilden; natürlich könnte man aber zum gleichen Geschehen – also auf der Basis gleicher Wahrnehmungen – auch ganz andere Hypothesen bilden. Z.B. könnte ich mir sagen „diesem Kunden sind einfach verschiedene Informationsquellen wichtig; er will genau vergleichen können“, „der Piepton, den ich wahrnehme stammt von einem elektrischen Gerät irgendwo hier in der Nähe; spätestens dann, wenn ich woanders hingehe, höre ich ihn nicht mehr“ und „mein Chef schaut ab und an Richtung Wand, weil er über das, wovon ich ihm erzähle nachdenkt und den Blick dabei schweifen lässt.“
Klar ist, verschiedene Hypothesen machen unterschiedliche Musik: für das, was ich in einer Situation erlebe, wie ich mich darin fühle, was ich tun werde und wie es dann wohl weitergehen wird. Und dies gilt erst recht auch für verschiedene Bewertungen. Bewertungen sind meine persönlichen Reaktionen auf das, was geschieht, die Art und Weise, wie ich es finde. Ob ich mir z.B. sage, „bei diesem Kunden habe ich wenig Chancen“ oder “schön, dass er offenbar nicht auf unseren Wettbewerber festgelegt ist – sonst würde er gar nicht mit mir reden“, ob ich denke, „der Piepton ist bedrohlich“ oder „er lässt mich kalt, zumal meine Aufmerksamkeit sowie auf ein anderes Thema gerichtet ist“, ob ich den Eindruck habe, „mein Chef ist respektlos“ oder „gut, dass er in sich geht, wenn er hört, was ich ihm berichte“ – all dies sind Bewertungen und ganz offenbar können diese Bewertungen signifikant unterschiedliche Folgen produzieren. Von daher ist es hilfreich, merken zu können, mit welchen Hypothesen und Bewertungen man eigentlich gerade unterwegs ist. Genau das, merken wir jedoch ganz häufig nicht.
In Veranstaltungen, die ich für Manager zu Kommunikationsthemen durchführe, mache ich manchmal folgendes kleine Experiment. Nachdem ich mit den Teilnehmern über die Unterschiede von Wahrnehmen, Erklären und Bewerten ausführlicher gesprochen habe, bitte ich einen Teilnehmer zu beschreiben – nicht zu erklären oder zu bewerten, wie ich ganz deutlich dazu sage –, wie ein anderer Teilnehmer im Augenblick gerade da sitzt. In 95% der Fälle erhalte ich dann Antworten wie „er oder sie ist konzentriert, entspannt, aufgeschlossen“ oder „schon etwas müde, möchte mal Kaffee trinken, ist trotzdem aber interessiert“ etc. All dies sind bei Lichte betrachtet Hypothesen und Bewertungen. Wahrnehmungen wären demgegenüber z.B. „Er oder sie sitzt aufrecht, den Rücken an der Lehne, die Beine gekreuzt“ etc. Auch wenn dezidiert nach Wahrnehmungen gefragt wird, liegt die Quote von echten Wahrnehmungsbeschreibungen in den Antworten häufig quasi bei Null. Genau dies passiert in unserem beruflichen und privaten Alltag allerdings auch – und zwar alle Nase lang. Und das ist kein Wunder: Der Regelfall ist, dass Menschen glauben, sie beschreiben etwas, während sie munter drauf los bewerten und ihre persönlichen Hypothesen produzieren. Dass dies so ist, liegt zum einen daran, dass wir eben ganz wie von selbst Hypothesen und Bewertungen bilden, sobald wir Dinge wahrnehmen; zum anderen ist uns die Art, wie wir in Hinblick auf andere und uns selbst Hypothesen und Bewertungen bilden, im höchsten Maße vertraut. Für uns ist das normal; von daher denken wir eben: „So ist es – na klar: Der Kunde ist widerwillig. Das Piepen ist ein Problem. Der Chef ist desinteressiert“ etc. Und fördern so, natürlich ohne es zu beabsichtigen, den einen oder anderen Situations- und Beziehungsverlauf, der sich deutlich ungünstiger entwickelt, als es sein müsste.
Nun geht eines sicher nicht, nämlich sich ständig zu fragen, was genau denn nun jeweils Wahrnehmungen, Hypothesen und Bewertungen sind, um alles fein säuberlich auseinanderzuklamüsern. Dies wäre nicht praktikabel, denn es würde uns in unserem Handeln, in dem wir permanent auf Annahmen und Wertungen angewiesen sind, lahmlegen; außerdem wäre eine solche Dauer-Analyse auch gar nicht nötig, denn in der Mehrzahl der Fälle sind wir mit unseren Urteilen und Einschätzungen im Sinne unserer Ziele durchaus erfolgreich unterwegs. Wenn man allerdings merkt: die Beziehung wird mühsamer, der eigene Blick immer kritischer und skeptischer, die Dinge verhaken sich, der Erfolg bleibt aus – spätestens dann ist es sinnvoll und professionell, jedenfalls dann, wenn man berufsmäßig mit Menschen in komplexen Situationszusammenhängen zu tun hat, sich zu fragen, von welchen Hypothesen und Bewertungen man gerade ausgeht, welche Folgen diese Hypothesen und Bewertungen wohl haben und welche anderen Hypothesen und Bewertungen, die vielleicht die Chance auf gewünschte Folgen vergrößern, es auf der Basis dessen, was tatsächlich wahrnehmbar ist, noch geben könnte. Dabei kann man alternative Hypothesen und Bewertungen natürlich auch experimentell einsetzen: man schaut, was passiert, wenn man in dieser Weise mit anderen inneren Einstellungen an die Dinge heran geht.
All dies setzt dreierlei voraus:
- die Bereitschaft eigene Hypothesen und Bewertungen, selbst wenn sie einem vielleicht ganz evident erscheinen, zu überprüfen,
- die Bereitschaft diszipliniert auf das zu schauen, was sozusagen diesseits der Hypothesen und Bewertungen tatsächlich wahr-nehmbar ist und
- die Bereitschaft, alternative Hypothesen und Bewertungen, die ebenfalls möglich sind und die Aussicht auf bessere Handlungs-folgen eröffnen, ernsthaft ins Spiel zu bringen.
Wer dies tut, kann mindestens zwei interessante Erfahrungen sammeln: zum einen die, dass sich so gar nicht selten auch schwierige und festgefahren erscheinende Situationen produktiv verändern lassen und zum anderen die, dass sich das eigene Repertoire, eigenes und fremdes Verhalten zu erklären und zu bewerten in hilfreicher Weise mehr und mehr erweitern lässt. Beides macht es lohnend, vom Wissen um den Unterschied von Wahrnehmen, Erklären und Bewerten, immer mal wieder systematisch Gebrauch zu machen. Auch wenn diese Unterscheidung im Alltag wenig Gang und Gebe ist, sie kommt dem Alltag – beruflich wie privat – stark zu Gute.