15. September 2011

Verborgene Gefahren – Eine Orientierungshilfe für den Umgang mit gesundheitsbelastenden Eisbergthemen

Manche Themen lösen bei Menschen, die von ihnen betroffen sind, so starke Ängste aus, dass das Streben entsteht, sie soweit irgend möglich vor den anderen und manchmal auch vor sich selbst zu verbergen. Typische Themen dieser Art sind Sucht (z.B. Alkoholismus, Tablettensucht, Spielsucht etc.), psychische Störungen (z.B. Depression, Burn Out, Phobien etc.), tiefgreifende und als nicht besprechbar erlebte Beziehungsprobleme, private Überschuldung, tabuisierte körperliche Erkrankungen (z.B. HIV, Sexualkrankheiten, unter Umständen Krebs etc.) sowie als inakzeptabel erlebte Kompetenzdefizite (z.B. Analphabetismus, das Fehlen elementarer Computer- oder Fremdsprachenkenntnisse etc.). Das Umfeld sieht dabei oft nur die Spitze eines ‚Eisbergs‘ in Form von Symptomen, die als kritisch und problematisch erlebt werden wie etwa Leistungs- und Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit, häufigere Fehlzeiten, Verhaltensauffälligkeiten etc. Die eigentlichen Ursachen, Zusammenhänge und Dynamiken dieser Symptome liegen dabei im Verborgenen. Kommt es hier nicht zu Klärung und Hilfe, die an den eigentlichen Ursachen ansetzt, so entstehen oft lange Leidensgeschichten – sowohl für die betroffene Person wie auch ihr gesamtes Umfeld.

Wie sollte man als Führungskraft mit solchen Situationen umgehen? Woran kann man gesundheitsbelastende 'Eisbergthemen' überhaupt erkennen? Und was kann man tun, um als Führungskraft in derartigen Situationen sinnvolle Unterstützung zu bieten?

Hinweise auf Eisbergthemen

Typische Indikatoren von Eisbergthemen sind:

  • Offensichtliche Ungereimtheiten
  • Signifikante negative Änderungen im Leistungsverhalten oder Sozialverhalten einer Person ohne klar ersichtlichen Grund
  • Wiederholte klare Vereinbarungen ohne entsprechende Handlungsfolgen
  • Häufiges Auseinanderklaffen von verbaler Sprache und Körpersprache
  • Das eigene ‚Bauchgefühl‘

Keiner dieser Indikatoren ist ein eindeutiger Beweis für das Vorhandensein eines Eisbergthemas. Je stärker und häufiger solche Indikatoren aber zusammen kommen, umso eher kann man davon ausgehen, dass man es mit einem Eisbergthema zu tun hat. Eisbergthemen zu entdecken ist dabei kein Selbstzweck. Wenn diese Themen rein privater Natur sind und rein private Folgen haben, gehen sie die Führungskraft zumindest in ihrer Rolle als Führungskraft nichts an. In aller Regel führen persönlich belastende Eisbergthemen wie Süchte, Burn Out, Depression etc. allerdings gerade zu äußerst erheblichen Beeinträchtigungen im Beruf, und dies in vielfältiger Hinsicht.

Typische Auswirkungen von Eisbergthemen sind:

  • Signifikante Leistungsbeeinträchtigungen
  • Störungen der Zusammenarbeit
  • Beeinträchtigungen von anderen Personen im Umfeld (Teammitglieder, Mitarbeiter, Kollegen etc.)
  • Erhöhte Fehlzeiten
  • Eine Verschlechterung der negativen Phänomene über die Zeit

Die notorische Gefahr ist dabei, dass solche Auswirkungen zwar Erklärungen finden, die Erklärungen aber wenig bis gar nichts mit dem eigentlichen Grund zu tun haben: „Der Mitarbeiter will nicht mehr, ist unmotiviert, hat sich ausgeklinkt, ist uneinsichtig, eigenbrödlerisch oder inkompetent…“ So oder ähnlich lauten oft die Hypothesen, die sich im Umfeld angesichts der Auswirkungen eines Eisbergthemas bilden.

Eine erste große Herausforderung im Umgang mit Eisbergthemen besteht daher darin, eigene Erklärungsversuche in Frage zu stellen und noch einmal genauer hinzuschauen auf das, was los ist und das, was dahinter stecken könnte. Dies ist umso wichtiger je mehr das von einer Person gezeigte Verhalten negativ abweicht von Erfahrungen, die man früher mit dieser Person hat machen können.

Hilfreiche Unterstützung 

Die zweite große Herausforderung bei gesundheitsbelastenden Eisbergthemen besteht darin, zu helfen. Und dies setzt zunächst hilfreiche Gespräche voraus. Eine sinnvolle Grundstrategie lässt sich dabei analog der Strategie bei schwierigen Verhandlungssituationen gemäß dem Harvard Verhandlungskonzept beschreiben als ‚hart in der Sache – weich in der Beziehung‘.

‚Hart in der Sache‘ meint:

  • Am Thema dranbleiben
  • Die sich stellenden Fragen wirklich stellen
  • Deutliches Feedback geben
  • Die kritischen Folgen des gezeigten Verhaltens klar thematisieren (‚Face Reality‘)
  • Soweit nötig Rahmenbedingungen, Regeln und allgemeine Anforderungen deutlich ansprechen

‚Weich in der Beziehung‘ meint:

  • Zuhören
  • Nachfragen
  • Die Sichtweisen und Bedürfnisse des Gesprächspartners wahrnehmen und ernstnehmen
  • Wahrgenommene Gefühle ansprechen
  • Brücken bauen zwischen den eigenen Sichtweisen, Anforderungen und Zielen und den Sichtwiesen, Zielen und Bedürfnissen des Mitarbeiters
  • Vertraulichkeit zusichern
  • Soweit möglich konkrete Unterstützung anbieten

Unter Druck und Stress neigen die meisten Menschen tendenziell dazu, die Kommunikation entweder insgesamt ‚hart‘ zu stellen – also ‚hart‘ in der Sache und ‚hart‘ in der Beziehung‘ zu agieren – oder aber alles ‚weich‘ zu spülen – ‚weich‘ in der Beziehung und ‚weich‘ in der Sache. Beides hilft im Umgang mit Eisbergthemen nicht wirklich weiter. Der ‚harte‘ Weg führt oft zur Blockade oder Eskalation: nichts geht mehr, schon weil die Angst die Offenheit verhindert. Der allzu ‚weiche‘ Weg führ zu keiner Veränderung: man bleibt in der Komfortzone und es entsteht kein Handlungsdruck. Die Kunst besteht daher darin, inhaltlich konsequent auf Kurs zu bleiben und gleichzeitig wertschätzend, respektvoll, empathisch und geduldig in der Beziehung zu sein.

Hierfür braucht es – auf der Ebene der Worte und des Handelns – einfühlsame Wiederholung und Verlangsamung:

  • „Ich habe den Eindruck, da ist noch etwas anderes, das Sie beschäftigt.“
  • „Helfen Sie mir zu verstehen, was los ist, damit wir gemeinsam eine gute Lösung finden können.“
  • „Ich möchte Ihnen gerne helfen, aber dafür brauche ich auch Ihre Hilfe, dass Sie mir vertrauen…“

Ganz besonders braucht es allerdings bestimmte innere Haltungen, ohne die die Worte nicht wirken werden. Zu diesen Haltungen gehören:

  • Die Annahme, dass der andere, auch wenn die Dinge gerade schwierig laufen, sein Bestes gibt und zu geben bereit ist.
  • Die Annahme, dass eine sinnvolle Verständigung möglich ist.
  • Die Annahme, dass eine Verbesserung der Situation gemeinsam erreicht werden kann.
  • Die Bereitschaft auch erste kleine Schritte der Öffnung oder der Veränderung als Fortschritt zu sehen.
  • Geduld, wenn erst mal keine Fortschritte kommen oder der Prozess ins Stocken gerät.

Das Ziel einer Führungskraft, die mit einem Mitarbeiter, der sich in einer gesundheitsbelastenden Eisbergsituation befindet, ‚hart in der Sache, aber weich in der Beziehung‘ ins Gespräch geht, liegt darin, soweit miteinander auf die Ebene der eigentlichen Themen zu kommen, dass erkennbar und besprechbar wird, welche Art von Hilfe der Mitarbeiter braucht und welche Unterstützung das Unternehmen dem Mitarbeiter hierfür geben kann. Dabei geht es nicht darum, dass die Führungskraft den Mitarbeiter ‚heilt‘ oder irgendwelche medizinischen Diagnosen stellt. Dies ist weder zu leisten, noch wäre es angemessen. Worum es geht, ist, die wirkliche Situation und ihre Folgen besser zu verstehen und Hilfe aus dem Unternehmen, zum Beispiel unter Mitwirkung der Personalabteilung, des Betriebsarztes oder der Sozialberatung zu initiieren, die es dem Mitarbeiter leichter macht, seine eigentlichen Probleme anzugehen. Und es geht darum zu besprechen, was all dies für die Möglichkeiten der Tätigkeitsausübung des Mitarbeiters bedeutet und wie sinnvolle weitere Schritte aussehen, um für das jetzt Nötige und das später Mögliche die Weichen so gut es eben geht zu stellen.   

Als dies ist anspruchsvoll und aufwändig. Die Alternative, die Dinge einfach weiter laufen zu lassen oder den Mitarbeiter ‚abzuschreiben‘, ist aber in aller Regel langfristig deutlich schmerzhafter und folgenschwerer – und dies meist für alle Beteiligten.

Situationen mit stark belastenden Eisbergthemen sind immer hochgradig fordernd. Man sehnt derartige Situationen natürlich nicht herbei; doch wenn sie da sind, eröffnen sie stets auch Chancen: die Chance auf Vertrauen, auf Dialog, auf konstruktive Lösungsfindung, Entwicklung und persönliches Wachstum – sowohl für den betroffenen Mitarbeiter wie auch für die Führungskraft. 

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


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Auf das eigene Wohlbefinden zu achten, ist eigennützig und uneigennützig zugleich. Ich tue etwas für mich und ich tue etwas für gute Bedingungen einer guten Performance.

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting