15. September 2015

Sollen Manager Experten sein und Experten Manager?

Ein Blick zurück

Diese Frage wäre noch vor wenigen Jahrzehnten als absurd abgetan worden.  Fachliches, also Expertentum stand in den Organisationen weit im Vordergrund. Von Vorgesetzten wurde erwartet, dass sie fachlich sehr auf der Höhe, in ihrem Zuständigkeitsbereich am besten auch fachlich die Nummer 1 sind. Ging der Chef in den Ruhestand und wurde er gefragt, wer denn „sein bester Mann“ sei, der ihm seiner Meinung nach nachfolgen solle, war in der Regel „der beste Fachmann“ gemeint. Beförderungen wurden meistens fachlich begründet, und die großen Organisationen waren mehr oder weniger aus fachlichen „Silos“ zusammengesetzt, in denen „Kaminaufstiege“ aus den eigenen Reihen der Normalfall waren. Management war kein gebräuchlicher Begriff, eher „Unternehmensführung“, verstanden als eine Kunst, die mit der Unternehmensspitze in Verbindung gebracht wurde. Und dass ein Vorstandsvorsitzender letzte Hand an die technische Gestaltung eines Produktes legte, war nicht selten. Es scheint lange her, dass solche Selbst- und Rollenverständnisse üblich waren. Aber auch heute sind solche Vorstellungen noch anzutreffen.

Im Zuge wachsender Globalisierung und beginnender Digitalisierung war ein Paradigmenwechsel unvermeidlich, denn Organisationen alten Schlages gerieten mehr und mehr in Schwierigkeiten. Vor allem in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts war in den Fachzeitschriften und Medien viel von einer „Hierarchiekrise“ die Rede. Der rasanten Zunahme von Komplexität im Unternehmensumfeld folgte eine Zunahme der unternehmensinternen Komplexität. Organisationsstrukturen wurden mehrdimensional, vor allem Projekt- und Matrixorganisationen begannen die Unternehmenspraxis zu bestimmen. In diesem Zusammenhang multiplizierten sich auch die Rollen, die die Unternehmensmitglieder situationsbezogen flexibel ausfüllen sollten. Außerdem verloren die neuen Rollen ihre vorherige Klarheit und Eindeutigkeit. Der daraus resultierende relative Mangel an Orientierung und die Notwendigkeit eigener Interpretations- und Urteilskraft überfordern bis heute nicht wenige.

Will man die Vielzahl organisationsinterner Rollen in großen Gruppen ordnen, ist eine Möglichkeit die Unterscheidung zwischen Linienmanagern (alle Vorgesetzte vom Gruppenleiter bis zum Vorstandsvorsitzenden), Fachexperten (vom hochqualifizierten Sachbearbeiter bis zum hochrangigen fachlichen „Leuchtturm“ des Unternehmens) und Projektleitern (vom Leiter eines kleinen Unterprojektes bis zum freigestellten Leiter eines Großprojektes).

 

Die Rolle des Linienmanagers

Linienmanager führen eine Organisationseinheit und sind primär für deren Ergebnisse verantwortlich. Damit sind materielle wie immaterielle Ergebnisse gemeint. Im Vordergrund steht i.d.R. die Zielerreichung. Ziele sind bekanntlich angestrebte spezifische Ergebnisse.

Aktuelle Ergebnisse resultieren aus Aktivitäten der Vergangenheit. Zu den Verantwortlichkeiten eines Linienmanagers gehört es deshalb ebenfalls, heute für gute Voraussetzungen für zukünftige Ergebnisse zu sorgen. Diese zeigen sich am aktuellen Zustand seiner Organisationseinheit, die vor allem an folgenden Prüfpunkten abgelesen werden kann:

  • Gemeinsame Orientierung: Geteilte Vision; als sinnvoll betrachtete Strategien, Ziele, Prioritäten und Rollen bzw. Rollenbezüge; gemeinsame Regeln, Haltungen und Werte, …
  • Effektive und effiziente Organisation: Geeignete Strukturen und Prozesse, ausreichende individuelle Handlungsspielräume, sinnvolle Programme, geeignetes Equipment,…
  • Kompetenzpassung: Passung von Aufgaben und Qualifikationen, geeigneter Kompetenzmix, Abrufbarkeit erforderlicher Kompetenzen, …
  • Kultur des Miteinander: Teamgeist, Unterstützungsbereitschaft, Konfliktfähigkeit, Optimismus, …
  • Lernbereitschaft:  Systematisches Reflektieren, Hypothesenbilden,  Lernen aus  Erfahrung,  Experimentieren, Neugier, Flexibilität, …

Damit Linienmanager ihrer Verantwortung nachkommen können, besitzen sie in ihrem Bereich die „Bewertungshoheit“: Sie bestimmen, was relevant ist, ob und inwiefern Handlungsbedarf besteht, welche Präferenzen und Prioritäten gelten, wie die Ressourcen zu verteilen und zu verwenden sind. Vor allem aber treffen sie Entscheidungen – die wiederum auf Bewertungen beruhen. Damit sie ihre Entscheidungen durchsetzen können, besitzen sie Anweisungsbefugnisse, also hierarchische Macht.

Die Rolle des Fachexperten

Unter „Fachexperten“ verstehe ich Mitarbeiter mit besonderen fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, die in diesem Ausmaß von „gewöhnlichen“ Sachbearbeitern nicht verlangt werden. Idealtypisch betrachtet, führen sie ein fachliches Thema und sind (mit-)verantwortlich dafür, dass ihr Wissen Eingang findet in relevante Entscheidungsprozesse. Dabei handeln sie sowohl auftragsbezogen als auch proaktiv. Sie halten ihr Wissen „state of the art“ und verbreiten es zielgruppengerecht in ihrer Organisation. Durch ihre fachbezogene Brille können sie Chancen und Risiken für ihr Unternehmen erkennen, die andere mangels fachlicher Kompetenz nicht sehen können. Zu ihren Aufgaben gehört es deshalb auch, solche Themen im Rahmen der jeweils gültigen Unternehmensstrategie eigeninitiativ voranzutreiben oder auch vorschnelle bzw. stark interessensgefärbte Entscheidungen zu verhindern. In diesem Sinne handeln sie als Co-Unternehmer. Zu ihrer Rolle gehört aber auch, dass sie die grundsätzliche Bewertungshoheit des zuständigen Managements akzeptieren, sie selbst in finalen Fragen somit nicht entscheiden. Fachexperten sind also hochqualifizierte Sachbearbeiter, Wissensvermittler, Entscheidungsvorbereiter (Berater) und Thementreiber aus eigener Verantwortung. Da sie keine hierarchischen Machtbefugnisse besitzen, müssen sie mittels fachlicher und persönlicher Autorität überzeugen.

Das Zusammenspiel von Linienmanagern und Fachexperten

Entscheidungen zu treffen ist quasi das Markenzeichen von Managern. An der Qualität ihrer Entscheidungen werden sie letztendlich gemessen. Das Problem dabei: Entscheidungen erfolgen immer und grundsätzlich unter Ungewissheit, weil sie auf einen gewünschten zukünftigen Zustand bezogen sind. Da niemand die Zukunft kennt, gibt es keinen Algorithmus für die eine richtige Entscheidung. Das gilt insbesondere für die komplexen Fragestellungen, mit denen es das mittlere und höhere Management heute typischerweise zu tun hat. Auch der intelligenteste und kenntnisreichste Manager ist heute kaum mehr in der Lage, alle wichtigen Aspekte fachlich hinreichend weit zu durchdringen. Zum Glück aber hat er seine Fachexperten! Idealtypisch lässt sich das Zusammenspiel etwa so beschreiben: Der Manager steht vor einer wichtigen Entscheidung. Er entwickelt für sich, als Grundlage für seine Entscheidung, ein inneres Bild der Situation mit den seiner Kenntnis nach wichtigsten Elementen und deren Zusammenspiel. Dieses innere Bild ist zunächst unterkomplex, weil wichtige fachliche Aspekte und Zusammenhänge fehlen. Dieses Manko beheben seine Experten. Es ist ihre Aufgabe, Expertise beizusteuern – z.B. technische Argumente, juristische Aspekte, unterschiedliche betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte und vielleicht auch strategische Überlegungen. Dadurch entsteht im Kopf des Managers puzzleartig ein vollständigeres „Big Picture“. Seine Aufgabe besteht darin, alle einzelnen Wissensbeiträge auf ihre Relevanz hin zu überprüfen und realitätsbezogen zusammenzufügen. Er ist in diesem Sinne Wissensintegrator und unvermeidlich vom Input seiner Fachexperten abhängig.

Manchmal ist die Frage zu hören, warum Experten nicht selbst die finale Entscheidung treffen sollen, denn sie sind es doch, die Bescheid wissen. Jedoch: Welcher Experte sollte das tun? Jeder einzelne würde zumindest tendenziell einseitig im Sinne seiner Expertise entscheiden. Und wenn es eine gemeinsame Entscheidung aller Experten geben solle: Würde der weiße Rauch als Zeichen für eine Übereinkunft rechtzeitig oder überhaupt aufsteigen? Mit anderen Worten: Auch Experten sind abhängig von einer zusammenführenden Instanz, welche die Autorität besitzt, Festlegungen vorzunehmen, sie für gültig zu erklären und die Umsetzung in Gang zu bringen.

In anderer Hinsicht kann sich das Verhältnis – ein Manager, viele Experten – auch umdrehen. Wenn z.B. ein Fachexperte eine neue und vielversprechende Idee vor einer Gruppe von Managern präsentiert, kann es sein, dass die Manager anschließend bei ihm Schlange stehen, um ihn bzw. seine Idee für sich und ihren Zuständigkeitsbereich zu gewinnen. Er hätte dann erfolgreich sein Thema getrieben.

Gleichgültig, ob der Experte auftragsbezogen oder eigeninitiativ handelt: Es ist seine Sache, durch seine Fachbrille hindurch nach Relevantem Ausschau zu halten, Wahrgenommenes zu beschreiben, die Ursachen, Folgen und Nebenfolgen zu erklären – und es Managern zu überlassen, das Verstandene z.B. nach Relevanz, Handlungs- oder Entscheidungsbedarf zu bewerten.

Fallen

Auch Experten oder Expertenteams besitzen gewöhnlich keinen Algorithmus für die Errechnung der einen richtigen Entscheidung. Gerade in komplexen Situationen gibt es i.d.R. mehrere mehr oder weniger vielversprechende Wege. Je erfahrener und kenntnisreicher der Experte ist, desto größer ist die Gefahr, dass er seine Expertise überschätzt und aus einer Scheinsicherheit heraus einseitig oder sogar falsch argumentiert. Zu wissen, was man nicht weiß, gehört untrennbar zur Expertise dazu. Und eine ehrliche Argumentation, die benennt, wann Fakten durch „Bauchgefühl“ ersetzt sind, mag manchen Manager verunsichern, es kann aber auch deren Vertrauen in den Beitrag erhöhen.

Manager, die zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Karriere fachlich gearbeitet haben, sich vielleicht immer noch mit dem betreffenden Fachgebiet identifizieren und sich deshalb selbst als Experten verstehen, laufen ebenfalls Gefahr, ihr Wissen zu überschätzen. Wahrscheinlich ist es nicht mehr state of the art. Ein gesundes Maß an Bescheidenheit und mehr Vertrauen in die Kompetenz und die Loyalität ihrer Experten sind i.d.R. erfolgsversprechender.

Dürfen Manager Experten sein und Experten Manager?

Manager sollten Experten sein – auf dem Gebiet des Managements, d.h. im Gestalten des Weges zum angestrebten Ziel. Fachexpertise benötigen sie insoweit, dass sie die Beiträge ihrer Experten verstehen und einordnen können. Sie sollten ihnen gegenüber keine nutzlosen fachlichen Rivalitäten aufbauen, sondern vertrauen. Vertrauen kann entstehen und wachsen, wenn Manager ihre Experten mit intelligenten Fragen herausfordern und darauf plausible, logisch nachvollziehbare und selbstbewusst vorgetragene Antworten erhalten. Natürlich kann es auch sein, dass der Manager auf einem bestimmten Fachgebiet tatsächlich keinen besseren Experten in seinem Umfeld hat als sich selbst. Wenn das wirklich so ist (Vorsicht!), ist er sein eigener Partner im Zwiegespräch. Er liefert dann an sich selbst Puzzlestücke, die er mit anderen Puzzlestücken zusammen zu einem inneren Big Picture formt. Die Gefahr, den eigenen Beitrag dabei zu stark zu gewichten, ist jedoch nicht klein.

Experten sollten unbedingt Manager sein, und zwar in eigener Sache. In dem Maße, in dem Rollen unklarer und mehrdeutiger geworden sind und in dem die Experten sich in einem schwer überschaubaren Umfeld bewegen, sind eigene Ziele, bewusst gesetzte Werte und ein in Teilen selbst entwickeltes Navigationssystem unverzichtbar. Besonders in Matrixorganisationen mit Mehrfachbindungen richten sich an die Experten Anforderungen und Erwartungen, die teilweise unklar, widersprüchlich und in der Summe oft auch quantitativ gar nicht leistbar sind. Obendrein sollen Experten innovativ sein und wichtige Themen treiben. Um hier wirkungsvoll und (im Sinne der eigenen Ziele) erfolgreich zu sein, braucht es ein hohes Maß an Selbststeuerung.

Management ist aber auch darüber hinaus ein Thema für Experten. Sie werden immer wieder in die Situation geraten, Kollegen im Rahmen von Projekten oder von Task Forces zu „managen“. Und es ist für sie generell hilfreich, in Managementkategorien zu denken. Es erleichtert in der Kommunikation mit Entscheidern das erfolgreiche argumentative Andocken und macht so den Königsweg der Einflussnahme einfacher: das Überzeugen.

Die Zahl der Rollen in den Organisationen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark vermehrt, und die einzelnen Rollen sind in ihren Anforderungen längst nicht so deutlich, wie es sich viele Menschen wünschen würden. Nichtsdestotrotz sind die Organisationen darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder sie kreativ und professionell ausfüllen. Dabei müssen sie auch Rollengrenzen respektieren, selbst wenn diese nur undeutlich markiert sind. Der Lohn dafür ist eine deutlich höhere Leistungsfähigkeit der Organisation, gerade in undurchsichtigen und turbulenten Zeiten

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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Wolfgang Reiber - Partner im Ruhestand, Metrion Management Consulting