Haltungen, Werte und soziale Regeln für agiles Arbeiten im Team
Würde es in der Welt der Wirtschaft eine Wahl zum Wort des Jahres geben, wäre „Agilität“ sicherlich ein heißer Kandidat. Die halbe Welt spricht davon und sieht in agilen Strukturen und Prozessen eine adäquate Antwort auf zunehmend komplexe, turbulente und unübersichtliche Verhältnisse. Im Mittelpunkt stehen dabei der Kunde als das Maß der Dinge und bunt zusammengesetzte Teams, in denen sich unterschiedliche Expertisen, Erfahrungen, Perspektiven und Kulturen treffen. Die Grundidee agilen Arbeitens besteht in einem iterativen und inkrementellen Vorgehen, d.h. kurze, überschaubare Schritte, in denen jeweils Teilprodukte in möglichst rascher Folge hergestellt werden, jeweils gefolgt von Feedbackschleifen zur Reflexion des gerade Gewesenen und zur Aktualisierung der Anforderungen. Selbstorganisierte Teams, die ganz ohne Lenkungseingriffe von außen bzw. durch die Hierarchie funktionieren, sollen auf diese Weise für Innovationen und für optimale Problemlösungen sorgen.
Die Wissenschaft lässt keinen Zweifel daran, dass Teams in Sachen Problemlösungskompetenz dem Wirken einzelner grundsätzlich überlegen sind. Ein ideales Team, das seine Potenziale voll ausschöpft, könnte man etwa so beschreiben: Alle Mitglieder sind ehrgeizig, voll motiviert und in ihren jeweiligen Wissensgebieten hoch kompetent. Alle kommen zu Wort, alle Beiträge sind willkommen und werden ernst genommen. Es herrscht eine Kultur des Respekts und des Vertrauens. Vertrauen ist die Grundlage dafür, dass auch implizites und sehr persönliches Wissen ausgetauscht wird, das sich jemand mit hohem Aufwand, Kosten und schmerzlichen Erfahrungen erworben hat. Es geht weniger darum, etwas ganz genau zu wissen als vielmehr darum, einen Prozess des miteinander Denkens in Gang zu bringen und zu halten. Die vorhandene Vielfalt und Widersprüchlichkeit im Team werden ausgehalten und wertgeschätzt. Alle sind bereit, ihre jeweiligen Positionen grundsätzlich in Frage zu stellen und Dinge ganz neu zu überdenken, denn das Ziel ist es, über die Grenzen des individuellen Verstehens hinaus zu kommen.
In einem solchen Team wirkt Synergie in vollem Maße, ausgedrückt in der Formel „2+2=5“. Ein Blick auf die Praxis zeigt jedoch, dass solche Teams sehr selten sind und häufig „2+2=3“ herauskommt. Das Team bleibt dann unter den Möglichkeiten des besten Einzelnen.
Schlechte Teams setzen sich oft aus Mitgliedern zusammen, die Lernen nicht als das Ergebnis gemeinsamen Tuns verstehen sondern als den Konsum von neuen Informationen und / oder als Belehrung durch eine Autorität. Und Autoritäten in diesem Sinne wollen viele sein. Diese identifizieren sich mit ihrem je eigenen Wissen, wollen es deshalb keinesfalls relativieren, es auch nur in höchstens kleinen Portionen herausgeben, und fühlen sich persönlich angegriffen, wenn andere widersprechen. Das geistige Zurücktreten von eigenen Annahmen und Gewissheiten wird als nicht akzeptable Unsicherheit und Schwäche verstanden. Die eigene Konkurrenzfähigkeit wird bei solchen Vorstellungen generell als eminent wichtig erlebt, denn schließlich wird das Organisationsleben als harter Wettbewerb um lukrative Fleischtöpfe wahrgenommen. Um zu gewinnen gilt es demnach, sich selbst zu optimieren und möglichst gut zu „performen“, also Eindruck zu machen, notfalls auch ohne inhaltliche Substanz. Viele, die so ticken, haben Werte verinnerlicht, die eine gute Kooperation eher verhindern, gemäß dem Motto: „The winner takes it all“. Dementsprechend ist im Zweifel egoistisches und opportunistisches Verhalten angesagt. Ein solches Klima im Team lässt manche anderen verstummen, die eigentlich Wichtiges zu sagen hätten, sei es aus taktischen Gründen oder aus Angst davor, unliebsame Reaktionen zurück zu bekommen.
Die meisten Teams in der Organisationspraxis bewegen sich zwischen den beiden skizzierten Extremen. Um die angestrebten Vorteile agiler Organisationsformen und Methoden realisieren zu können, ist fast überall noch einiges an gezielter Team- und Organisationsentwicklung zu leisten. In einigen Fällen geht es um Optimierung, in vielen anderen um einen deutlichen Kulturwandel.
Mitglieder in idealen oder Hochleistungsteams zeichnen sich durch methodisches und fachliches Können aus. Es sind i.d.R. Spezialisten, die gleichzeitig bereit und in der Lage sind, über ihren fachlichen Tellerrand hinauszuschauen, um die Verbindungen zwischen ihren und den jeweils anderen Fachgebieten erkennen und nutzen zu können. Mindestens genauso kompetent wie sie auf dem fachlichen und methodischen Gebiet sind, sind sie auch auf dem Feld der sogenannten weichen Faktoren: Haltungen, Werte und soziales Verhalten. Was das beinhaltet, beschreiben zu einem großen Teil die Modelle des „Dialogue“ von William Isaacs und der „Themenzentrierten Interaktion“ von Ruth Cohn. In teilweise enger Anlehnung an diese beiden Modelle lassen sich auch unsere Erfahrungen zu diesem Thema mit den folgenden Grundsätzen und Maximen zusammenfassen:
- Entwickele Ehrgeiz, Unternehmergeist und Eigeninitiative.
- Als Teammitglied bist Du Vertreter Deiner Expertise und Deiner Perspektive. Sage deshalb, was Du zu sagen hast und teile Dein Wissen. Sprich selbstbewusst und bestimmt, aber nicht selbstgerecht und besserwisserisch. Sage nicht nur deshalb etwas, damit Du mal wieder etwas gesagt hast.
- Es kann immer nur eine Person sprechen.
- Sei authentisch und sprich per „ich“, nicht per „man“ oder „wir“. Übernimm die Verantwortung für das, was Du sagst.
- Begründe Fragen, vermeide rasche Interpretationen und teil Deine Impulse und emotionalen Reaktionen mit.
- Zeige Respekt, Empathie und minimiere Dein Konkurrenzdenken.
- Nehme die Beiträge der anderen Teammitglieder ernst. Höre zu und lasse ausreden. Prüfe die Beiträge kritisch auf Genauigkeit und Stimmigkeit, aber auch wohlwollend und ergebnisoffen. Unterstütze Beiträge der anderen Teammitglieder ggf. durch das Verknüpfen mit anderen / eigenen Ideen.
- Es ist nicht wichtig, Recht zu haben. Ziel ist es, in einem diskursiven Prozess ein gemeinsames Big Picture, eine innovative Idee oder eine konkrete Problemlösung zu entwickeln.
- Finde eine gute Balance aus Phasen der Be- und der Entschleunigung. Achte generell auf den Prozess, also auf das „Wie“ der Zusammenarbeit und der Kommunikation.
- Achte auf Deine Energie, die Energie der anderen und auf Deine eigenen Körpersignale.
- Störungen haben Vorrang. Wechsele von der Sach- auf die Beziehungsebene, wenn sich die Dinge im Diskurs verhaken.
- Gib ehrliches Feedback und nimm das Feedback anderer als wichtige Information.
Die grundlegenden Ansätze und Überlegungen, die hinter dem Konzept „Agilität“ stehen, sind teilweise schon Jahre und Jahrzehnte alt. Neu scheinen vor allem der äußere und der innere Druck in den Organisationen zu sein, die Ideen auch tatsächlich umzusetzen. Das Erlernen und Anwenden der entsprechenden rationalen Prozesse und Verfahren ist dabei nach allgemeiner Erfahrung kein nennenswertes Problem. Der entscheidende Engpass ist in aller Regel das Mindset der betreffenden Personen bzw. die Kultur der Organisation. Wenn weiterhin altes Denken vorherrscht in den Kategorien Anweisung und Kontrolle, akribisches Planen, Null-Fehler-Vorgaben, unverrückbare Zuständigkeiten, feste Positionen und Statusstreben, dann kann das Wording lauten wie es will: Wo Agilität draufsteht ist dann gewiss keine Agilität drin. Die – wenn man so will – gute Nachricht dabei: Agiles Arbeiten ist keine Wunderwaffe für alle Aufgaben- und Problemstellungen der Gegenwart. Es gibt und es wird voraussichtlich auch in der Zukunft Bereiche geben, in denen traditionelle Formen der Zusammenarbeit stimmig, sinnvoll und funktional besser geeignet sind. Ob diese Bereiche zukünftig für qualifizierte Mitarbeiter attraktiv sein werden ist eine andere Frage.