21. Juni 2023

Führen in schwierigen Situationen

Was wir von einer tragisch endenden Skihochtour lernen können

Im April 2018 fanden 7 von 10 Menschen auf einer Skihochtour, 550m von der lebensrettenden Hütte entfernt, den Tod durch Erfrieren, darunter der Bergführer und seine Lebensgefährtin. Der Bergführer wurde von allen, die ihn kannten und teilweise bereits seit über 10 Jahre auf anderen Hochtouren mit ihm unterwegs waren, als verantwortungsvoll beschrieben. Er hatte einen guten Ruf, hatte lange in Chamonix gelebt und kannte die Alpen dort sehr gut. Wie konnte das passieren? Was genau war passiert und was können wir für die Führung in schwierigen Situationen in einem Unternehmen lernen?

Der SRF hat das Unglück in einer Dokumentation aufgearbeitet und folgende Faktoren beschrieben, die wahrscheinlich zum Unglück führten:

  • Es gab nur einen Bergführer für eine Gruppe von acht Per­sonen, die normalerweise von zwei Bergführer:innen geführt wird. Der Bergführer setzte stattdessen auf seine Lebens­gefähr­tin, die zertifizierte Wander- und Touren­leiter­in sowie Ski­lehrer­in war, aber keine Ski­hoch­touren­führerin war.
  • Es wurde nicht gemeinsam besprochen bzw. offen diskutiert ob die Teilnehmer:innen die Tagesetappe oder lieber eine Alternative (auf der Hütte bleiben, abfahren ins Tal etc.) angehen wollen. Der Bergführer stellte am Abend die aktuelle Wetterlage dar, entschied jedoch für sich alleine und informierte auch am Morgen die Gruppe nicht, was sein Plan war.
  • Am Umkehrpunkt war bereits zu erwarten, dass der Sturm früher hereinbrechen würde. Dieser wurde aber weder kommuniziert noch genutzt.
  • Niemand einschließlich des Berg­führers hatte einen funk­tionieren­den GPS Track der Tour an der entscheidenden Stelle zur Verfügung.
  • Der Bergführer hatte anscheinend keine Ersatz­akkus/­Power­bank für seine GPS-Armbanduhr/ sein GPS-Telefon – zumindest funktionierte beides am Ende nicht mehr.
  • Der Bergführer hatte ein Satellitentelefon dabei – dies kam aber aus unbekannten Gründen nicht zum Einsatz
  • Bereits im Schneesturm, der vier Stunden früher hereinbrach als vorhergesagt, bot ein Teilnehmer dem Bergführer (Um­kehr­en war keine Option mehr) einen Blick auf sein GPS an. Darauf war zwar kein Track, aber die Karte hinterlegt. Der Bergführer nahm dieses Angebot nicht an.
  • Der Bergführer meldete die Gruppe auf der Hütte nicht an, so dass auch der Hüttenwart am Abend keine Gruppe vermisste.
  • Ein sehr erfahrener Teilnehmer hatte ein schlechtes Gefühl, war auch derjenige der die meisten Fragen stellte, inter­venierte aber letztendlich nicht.

Für jemanden der/die selbst Ski­hoch­touren plant und geht bzw. eine Gruppe führt, ist schwer verständlich, warum ein erfahrener, verantwortungs­bewusster Bergführer diese offen­sichtlich erscheinenden Basis­maß­nahmen nicht getroffen hat. Jede/r, der/die öfters Skihochtouren geht, ist schon von einem Whiteout eingehüllt worden und weiß, wie erschreckend schnell man/frau in diesem Fall komplett die Orien­tierung verliert und dann oft nur noch ein GPS weiterhilft. Selbst ein Kompass hilft in solchen Situationen nur dann weiter, wenn man auch auf der Karte genau weiß, wo man ist. Und in diesem Fall kam auch noch ein Sturm hinzu….

Man/Frau ist also schnell dazu geneigt, sich und anderen zu sagen: „Wie kann man nur so leichtsinnig, so unvernünftig sein? So würde ich nie handeln. Er kann kein guter Bergführer gewesen sein. Doch offenkundig greift genau das hier nicht. Ein Bergführer mit viel Erfahrung und gutem Ruf - und trotzdem geschahen banale Fehler, die zusammen mit den extremen Außenbedingungen zum Tode von 7 Menschen führten. Es bleibt die Frage: wie kann das passieren?

Hier ein Versuch der Erklärung über typische Fallen, angelehnt an das Akronym FACETS von McCammon (ohne A und T):

  1. Familiarity – das Vertrautheitsproblem: Ich war hier schon oft; hier ist noch nie was passiert; außerdem bin ich Experte und kenne mich gut aus; es ist unwahrscheinlich, dass ich den Weg nicht finde.
  2. Consistency/Commitment – die Falle der versunkenen Kosten: Die Kund:innen haben viel Geld bezahlt für diese Tour, sich die Zeit frei geschaufelt will dafür trainiert. Alle wollen die komplette Tour gehen.
  3. Experte I – die Selbstentmündigungsfalle: Jemand in der Gruppe kennt sich (vermeintlich) besser aus oder ist besonders selbstsicher. Der/die wird schon wissen, was er/sie tut, meine Bedenken sind unbegründet.
  4. Experte II – der Overconfidence Bias: Ich habe ungleich mehr Erfahrung, die Situation ist komplex und für Nichtexperten kaum einschätzbar – wieso soll ich jetzt lange mit den Teilnehmer:innen diskutieren?
  5. Scarcity – die Planung ohne Puffer: Meine nächste Kund:innen warten nächste Woche schon auf mich – ich kann nicht verlängern und habe keinen Puffer. Oder: Meine Akkus haben bisher immer gereicht, ich brauche keine Ersatzakkus. Oder: Ein:e zweite:r Bergführer :in würde die Gruppe noch mehr Geld kosten.

Im Unbewussten von Menschen laufen Dynamiken ab, die für niemanden einfach zu erkennen sind. Wir alle tappen immer mal wieder in solche Fallen; eine fatale Wirkung entfalten sie vor allem dann, wenn wir gleichzeitig in mehrere Fallen tappen und uns die Kumulation der Fallen nicht bewusst ist. Je mehr Druck wir verspüren z.B. Zeitdruck, Kostendruck, Erwartungsdruck, Druck der eigenen Performance etc. (und diese Druckfaktoren sind in Unternehmen Alltagsrealität) desto weniger ist uns bewusst, was unbewusst in uns abläuft, sodass wir dadurch eventuell aufkommende warnende Signale ausblenden. Und je erschöpfter wir sind, desto lieber nehmen wir Abkürzungen: räumlich, aufgabentechnisch und mental. Und das ist fatal – oder kann es zumindest werden. Wenn dies einem Bergführer passiert, der eigentlich verantwortungsbewusst ist, der weiß, dass bei Fehlentscheidungen das Leben von Menschen inclusive seinem eigenen auf dem Spiel steht, sollte uns klar werden, dass dies auch jedem/jeder von uns passieren kann. Nun ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen durch falsches Verhalten im Unternehmensumfeld den Tod finden, gering und doch kann es bei Fehleinschätzungen und vielleicht dadurch bedingte Schließungen eines Bereichs, eines Unternehmens zu existenziellen Nöten kommen. Und auch in diesen Fällen ist es selten ein Fehler alleine…. Die Frage lautet also: Was können wir unternehmen, dass uns so etwas in einem immer komplexer werdenden Unternehmensumfeld, in dem entscheidende Informationen eingelagert sind in vielen unwichtigen Hintergrundgeräuschen, in dem sich Bedingungen und die Informationslage immer wieder ändern, in dem Zeitdruck, Kostendruck und Überarbeitung Alltagsrealität sind, nicht passiert?

Natürlich bedeutet dies, die vielen möglichen Tools, Methoden, Modelle, Frühwarnsysteme, die uns zur Verfügung stehen, einzusetzen. Genauso wichtig sind aber die banalen, altbekannten Themen, die hier durch Nichtbefolgung zum Tod der sieben Menschen geführt haben:

  • Sehr viel Erfahrung führt dazu, dass man auf seine Kompetenz und Erfahrung vertraut und nachlässig wird, was das Eins­etzen von Tools, das Mit­ein­beziehen anderer betrifft. Es wird als mühsam, als Zeit­verschwendung angesehen. Um nicht genau in diese Falle zu tappen empfiehlt sich entweder das Erstellen und Befolgen von (stupiden, alt­backen daher­komm­enden) Checklisten und Algorithmen sowie das Anwenden von bekannten (Projekt­manage­ment)-Methoden mit klaren Zielen, Meilen­steinen, Plänen und Ent­scheidungs­punkten oder wie es in den agilen Methoden oft der Fall ist: das Befolgen von ganz klaren strukturellen und organisatorischen Vorgaben.
  • Außerdem braucht es den Einbezug der Teamkolleg:innen durch eine Kultur des kritischen Hinterfragens und trans­parente Komm­unikation. Dies bedeutet: auch, wenn ich der/die Expert:in bin, sobald ich in einem Team arbeite, gilt es, meine Entscheidungen immer wieder dem Team offenzulegen, die Teammitglieder zum kritischen Fragen zu ermutigen und das Bauchgefühl/die Intuition meiner Teamkolleg:innen miteinzubeziehen.
  • Die Teamkolleg:innen wiederum sollten ein Bauchgrummeln ernstnehmen, und artikulieren und das heißt auch, sie sollten ihre eventuelle Scheu, „der Bedenkenträger“ zu sein, aber auch die eigene Bequemlichkeit, ablegen und sich aufraffen, unbequem zu sein.
  • Das Anfordern von Hilfe, wenn man Hilfe braucht, sollte als Stärke betrachtet werden. Wird es als Schwäche oder als Verlust von Autorität angesehen, werden sich immer wieder Gründe finden, warum es noch zu früh ist, um Hilfe zu bitten.
  • Unser hochgelobter unbeugsamer Wille, der uns oft genug auch unser Ziel erreichen lässt, kann zu einer (tödlichen) Falle werden. Er lässt uns Hinweise/Bedingungen die anzeigen, dass es anders als erwartet laufen wird (wie z.B. ein Hauptmarkt, der uns einbricht, eine Innovation des Wettbewerbers, ein wichtiger Kunde dem die Insolvenz droht) nicht so ernst nehmen, wie wir es sollten. Eine Änderung unseres Planes und unseres Verhaltens findet dementsprechend nicht statt. Wir setzen, ohne dass es uns bewusst wird, zunehmend auf Glück statt auf Fakten. Und zugegeben: oft genug finden wir ja dann auch noch Mittel und Wege, das Projekt zumindest halbwegs erfolgreich abzuschließen. Je mehr aber auf dem Spiel steht (z.B. Gefährdung der Existenz des Unter­nehmens, Auflösung der Abteilung), desto weniger darf das Glück miteinkalkuliert sein und desto wichtiger ist es, Krisen­szen­arios vorher zu besprechen und klare Umkehr­punkte oder Richtungs­änderungspunkte im Team festzulegen. Scheitern und Erfolg sind Geschwister, die uns fast immer gemeinsam begleiten. Dies sollten wir anerkennen und deshalb beide, ohne Mut, Kraft, Zuversicht und unsere gute Laune zu verlieren, in unsere Szenarien miteinbeziehen.

Wir sind Menschen – und werden deshalb nie frei von der Gefahr unbewusster psychologischer Urteilsverzerrungen sein. Dies nicht nur bei den anderen, sondern auch für sich selbst anzuerkennen, erleichtert den Aufbau einer offenen, transparenten, sich in ihren Handlungen und Entscheidungen immer wieder hinterfragenden Führungskultur. Gerade wenn es eng wird, sollte nicht unbedingt dem ersten Handlungsimpuls gefolgt werden, um durch schnelles Handeln Zeit zu gewinnen, sondern es gilt die Situation unter Berücksichtigung der Intuition gemeinsam klar zu analysieren, um so die beste Handlungsoption zu finden.

Quellen:

  • SRF - Todesfalle Haute Route – Rekonstruktion eines Dramas (2023):
    https://www.youtube.com/watch?v=zBbtfX16UFE
  • Hartl, Lea (2023) „Lawinengefahr Mensch“ in bergundsteigen #122
  • Gladwell, M. (2011): ”Blink!”; Piper München

Über die Autorin

 Pia Gaspard hat einen besonderen Sinn für Menschen und für Zahlen. Sie hört sehr genau zu und bringt die Themen ebenso klar wie wertschätzend auf den Punkt. Dadurch unterstützt sie insbesondere auch in schwierigen und konflikthaften Situationen die Beteiligten konstruktive Ansätze für nachhaltige Lösungen zu finden. 


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Meine Interpretation hat Folgen: Je nachdem, wie ich die Dinge sehe, bahne ich die Entwicklung, die die Dinge für mich nehmen.

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting