15. September 2011

Ein Schutzschild gegen Stress

Stress ist kein objektives Phänomen. Eine bestimmte Situation kann von manchen Menschen als sehr belastend und überfordernd erlebt werden, von anderen dagegen als sportliche Herausforderung, deren Bewältigung anstrengend ist, aber auch Spaß machen kann. Der Unterschied liegt vor allem in den jeweiligen Bewertungen und Erfolgseinschätzungen. Menschen, die geradezu stressresistent erscheinen, haben in ihrem Leben wichtige positive Erfahrungen gemacht, sie haben aus negativen Erfahrungen gelernt und die richtigen Schlussfolgerungen daraus gezogen, und meistens verfügen sie zusätzlich über eine günstige körperliche Konstitution. Zum Glück bedeutet das für all die anderen keineswegs, dass sie bei hohen Belastungen unvermeidbar in starken negativen Stress und am Ende vielleicht sogar in ein Burn out geraten müssen. Wissenschaftliche Untersuchungen und viele praktische Erfahrungen zeigen, dass die Grenze, ab der Stress individuell schwer aushaltbar und schädlich wird, deutlich nach hinten verschoben werden kann. Voraussetzung ist, dass die betroffenen Menschen die jeweilige Situation einigermaßen gut verstehen können, dass sie aufgrund ihrer Einschätzungen Gefühle von Sinnhaftigkeit, von Machbarkeit und von Selbstwirksamkeit entwickeln und dass sie sozialen Rückhalt spüren. Diese fünf Punkte werden im Folgenden näher beleuchtet:

Verstehbarkeit: Menschen können mit schwierigen Situationen deutlich besser umgehen, wenn sie die wichtigsten Gründe für deren Zustandekommen verstehen können, wenn sie die Begründung für anzustrebende Ziele nachvollziehen und akzeptieren können und wenn sie wenigstens ungefähr über die Wege dorthin Bescheid wissen. Wer die Ursachen für große Belastungen versteht, dem geht es deshalb nicht unbedingt gut, aber vergleichsweise besser. Damit wird unter anderem deutlich, dass es vor allem in Krisensituationen ganz besonders auf intensive Kommunikation ankommt. Es ist als Vorgesetzter viel besser, über Essentials ausführlich und durchaus auch redundant zu informieren als zu wenig und zu selten miteinander zu reden. Andernfalls werden mit großer Wahrscheinlichkeit „ersatzweise“ Gerüchte entstehen, die im Laufe der Zeit immer härter werden und teilweise nur schwer wieder aus der Welt zu bringen sind.

Sinnhaftigkeit: Wenn die Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, nach Einschätzung der Menschen Sinn macht, sind sie normalerweise imstande, viel Energie zu mobilisieren und hohe Belastungen auszuhalten. Es muss sich für sie lohnen! Damit sind nicht nur materielle Dinge gemeint. Die Erkenntnis, dass die Arbeit für andere Menschen, für die Organisation, für die Abteilung oder auch für einen selbst wirklich wichtig ist, kann Berge versetzen. Sinn vermittelt sich am besten in Dialogen. Zweiergespräche, Meetings oder auch Workshops kommen dafür infrage. Überzeugung gelingt vor allem dann, wenn die wichtigsten Meinungsführer und insbesondere der Vorgesetzte überzeugt sind. Auch hier nimmt der Chef mit seinen Einstellungen und seinem Verhalten eine Schlüsselrolle wahr.

Machbarkeit: Zu dem Gefühl von Sinnhaftigkeit muss das von Machbarkeit treten, andernfalls wird beherztes Handeln schwer fallen („wird doch eh’ nichts!“) und es droht eine selbst erfüllende Prophezeiung in die falsche Richtung. Misserfolgserwartungen stellen besonders dann, wenn das anvisierte Ziel als sehr wichtig angesehen und ein Misserfolg gleichzeitig als nicht akzeptabel bewertet wird, einen der größten Stressoren überhaupt dar. „Yes, we can!“, lautete eine bekannte und für Barack Obama seinerzeit sehr erfolgreiche Redeformel. Seine Geschichte macht noch einmal deutlich, wie sehr es auf die Erfolgseinschätzung und den grundsätzlichen Optimismus des Vorgesetzten ankommt. Glaubensbekenntnisse alleine genügen jedoch nicht. Die grundsätzliche Machbarkeit muss plausibel werden, zum Beispiel durch die gemeinsame Erarbeitung eines „Matchplanes“, wie es im Sport heißen könnte.

Selbstwirksamkeit: Gefühle von Sinnhaftigkeit und Machbarkeit sind notwendig, aber nicht immer hinreichend, um individuell Kräfte freisetzen zu können und hohe Belastungen aushaltbar werden zu lassen. Hinzukommen muss der Glaube an die eigene Wirksamkeit. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Einzelne es vorziehen, auf dem Trittbrett mitzufahren oder, was individuell schlimmer und für die Betreffenden weitaus stressreicher wäre, dass sich durch einen Vergleich mit den scheinbar viel tüchtigeren Kollegen Gefühle von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit ausbilden. Wichtig ist es, jedem persönlich klar zu machen, worin sein Beitrag besteht, was damit im Zuge des gesamten Leistungsprozesses geschieht, und womit zu rechnen wäre, wenn dieser Beitrag ausfallen würde. Es geht um Transparenz des Leistungsgefüges, und eventuell auch um Ermutigung, zum Beispiel durch die Erinnerung an frühere persönliche Erfolge oder die Betonung von individuellen Stärken und Fähigkeiten. Menschen, die wissen, dass sie gebraucht werden, und die sich zutrauen, ihren Beitrag adäquat leisten zu können, sind vergleichsweise besonders stressstabil.

Sozialer Rückhalt: Menschen sind ihrer Natur nach soziale Wesen. Ihre höchste Leistungsfähigkeit erreichen sie gewöhnlich dann, wenn sie sich als respektierten Teil eines Teams erleben, mit dem sie sich stark identifizieren, auf das sie stolz sind und dem sie unter Umständen auch große Taten zutrauen. In einem guten Team gibt es eine intensive wechselseitige Unterstützung in praktischer und in geistiger Hinsicht. Eine solche Kultur des Miteinanders zeichnet sich insbesondere durch ein starkes „Wir-Gefühl“ aus. Teamspirit lässt sich nicht verordnen, aber es lassen sich Bedingungen herstellen, die das Aufkommen eines positiven Gruppengeistes wahrscheinlich werden lassen. Dafür muss sich das Team als Team erleben, also gemeinsame Erfahrungen in geeigneten Settings machen, Erfolgserlebnisse verzeichnen und sie gebührend miteinander feiern. Individuell spielt die Einbindung in die Familie und in Freundes- und Bekanntenkreise natürlich ebenfalls eine grundlegende Rolle.

Die Verstehbarkeit des Geschehens ringsum, das Gefühl von Sinnhaftigkeit, von Machbarkeit und von Selbstwirksamkeit sowie nicht zuletzt ein starker sozialer Rückhalt können für den Einzelnen wie für eine Gemeinschaft so ähnlich wirken wie eine dicke Schutzschicht oder ein Schutzschild gegen übermäßigen Stress. Gleichzeitig kann sich die Leistungsfähigkeit deutlich erhöhen.

Die Belastungssituation in den meisten Organisationen und Abteilungen ist enorm. Überwiegend kommt der Druck von außen, vor allem von Kunden und Wettbewerbern. Dieser Druck wird aber durch eigenes Zutun oft noch verschärft. Schätzungen zufolge ist in manchen Fällen ein volles Drittel der Belastung selbst gemacht! Eine Besinnung auf die fünf Punkte kann Entlastung bringen. Es können sich Ansatzpunkte für alternative Vorgehensweisen ergeben, die unnötigen Druck vermeiden und die es gleichzeitig möglich machen, gesünder mit dem unvermeidbaren Druck umzugehen.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting