Zwei ungleiche Antworten auf Komplexität und Veränderung
Natürlich ist nicht die ganze Gesellschaft, sondern nur eine lautstarke Minderheit durch dumpfen Populismus gekennzeichnet. Und auch nicht alle Unternehmen setzen auf agile Vorgehensweisen. Allerdings lässt sich für beides ein starker Trend beobachten. Dies ist ein merkwürdiges Phänomen, denn beide Entwicklungen treten an vielen Orten zur selben Zeit auf, obwohl sie sich in ihren inneren Logiken eklatant widersprechen. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche, mit der uns umgebenden „VUCA Welt“ klar zu kommen. Der Begriff besitzt eine gewisse Popularität und steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Damit sollen die Charakteristika unserer modernen Welt beschrieben werden (siehe dazu u.a. meinen Artikel im Metrion Blog). Beunruhigend ist jedoch weniger der Widerspruch an sich als vielmehr die Tatsache, dass der populistische Trend fundamentale Werte und Orientierungen für unser Zusammenleben infrage stellt. Außerdem wäre ein Überschwappen auf den Unternehmensalltag ein gewaltiges Handicap auf den wettbewerbsintensiven Weltmärkten.
Was ist los in unserer Gesellschaft?
„Die Welt ist aus den Fugen geraten.“ Dieser Satz stammt von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und bezog sich auf die Welt in und vor allem um Europa. Turbulenzen finden weiter statt, zwischen und innerhalb einzelner Länder, natürlich auch in Deutschland. Viele Menschen haben Mühe, mit dem galoppierenden Tempo der Veränderungen mitzuhalten und ihre Ergebnisse zu akzeptieren. Sie erleben Frust und Zukunftsängste. Hier ein Ausschnitt der von einer großen Mehrheit negativ bewerteten Entwicklungen: In der Arbeitswelt sorgen Arbeitsverdichtung und ständige betriebliche Innovationen für Aufregung und Stress. Dazu kommt die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes. Unbefristete Verträge, die ein langes Verbleiben bei dem jeweiligen Arbeitgeber versprechen, sind seltener geworden. Die meisten beklagen auch vor diesem Hintergrund eine gestiegene psychische Belastung. In der privaten Lebenswelt sind die Veränderungen nicht schwächer und auch nicht weniger beunruhigend. Soziale Milieus lösen sich auf, alte Tabus wackeln und scheinbare Selbstverständlichkeiten im Umgang miteinander wie Respekt und Rücksichtnahme gehen teilweise verloren. Auch die Sprache wird roher. Und seit einiger Zeit gesellt sich zu der Sorge um den Arbeitsplatz die Sorge, die eigene Wohnung zukünftig nicht mehr halten zu können angesichts explodierender Mieten in vielen Großstädten. Der wütende und vorwurfsvolle Blick richtet sich auf unterschiedliche Gruppen, z.B. auf Migranten und Flüchtlinge, vor allem aber auf die Elite, also die in der Gesellschaft maßgeblichen und besonders einflussreichen Personen. Diese handeln in der Wahrnehmung von nicht Wenigen konsequent eigennützig und nach dem Motto „The winner takes it all“. Sie scheinen sich keinen Deut um das Gemeinwohl zu kümmern. Skandale, wie systematische Steuerhinterziehung, Abgasmanipulationen, exzessive Bezüge und Abfindungen für Top Manager sowie allgemein das konsequente Handeln in rechtlichen Grauzonen und manchmal auch darüber hinaus bestärken das Bild. Die wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen sowie die zunehmende Segmentierung der Gesellschaft (man bleibt unter Seinesgleichen) führen weiterhin dazu, dass man sich immer weniger versteht und ein gesellschaftlicher Aufstieg oft stärker von der Herkunft als von Talent und Leistung abhängt.
Allgemeine Geringschätzung erfahren auch Politiker. Sie scheinen sich weniger nach persönlichen Überzeugungen (die es eigentlich zu vermitteln und zu diskutieren gilt) als nach aktuellen Meinungsumfragen zu richten und schaffen es nicht, die Probleme in den Griff zu bekommen – obwohl es diesbezüglich an Versprechungen in unseren permanenten Wahlkämpfen nicht fehlt. Es scheint vielen Politikern an Expertise zu fehlen, auch lassen sich viele Probleme auf nationaler Ebene gar nicht lösen. Das nicht sichtbare Anpacken großer Probleme und der Versuch, sie stattdessen kleinzureden, führen zwangsläufig zu weiteren Enttäuschungen. Es fehlt nach Meinung interessierter Beobachter an mutigen Visionen, plausiblen Strategien und überzeugenden Projekten. Stattdessen beherrschen Marketing, Showeffekte und inhaltliches Klein-Klein den politischen Alltag.
Heftig angegriffen werden außerdem die Vertreter der öffentlichen Medien, denen einseitiges Mainstreamdenken vorgeworfen wird. Tatsächlich verstört das enge Verhältnis und die Intransparenz des Zusammenspiels von Medien, Politik und Wirtschaft, was sich besonders deutlich in Berlin zeigt, wo sich im Zentrum der Stadt auf etwa einem Quadratkilometer die wichtigsten Ministerien, Lobbyverbände und Redaktionsbüros treffen. Die genannten Institutionen brauchen sich gegenseitig: Politiker müssen wahrgenommen werden, Unternehmen wollen gehört werden und Einfluss nehmen, Medien benötigen im ständigen Kampf um Quoten und Auflagen Schlagzeilen. Bei so viel Nähe kann eine gewisse Konvergenz des Denkens nicht ausbleiben.
Die Gegenwart frustriert nicht wenige, aber die Zukunft erscheint den meisten ganz besonders düster angesichts der wachsenden Weltbevölkerung, der Verschiebung von ökonomischen und politischen Machtzentren in der Welt, des beginnenden Klimawandels, der wachsenden Migrationsströme und der jobfressenden Digitalisierung. Der Status Quo - für viele das kleinere Übel - muss diesem Gefühl entsprechend mit allen Kräften verteidigt werden. Am liebsten würde man auf eine imaginäre Pausentaste drücken und auf die Zukunft verzichten. Alternativ wird auf die Rückkehr in eine verklärte Vergangenheit gesetzt. So kommen Nationales, Völkisches und Autoritäres zurück auf die gesellschaftliche Bühne.
Wenn die Verhältnisse um uns herum unverständlich, frustrierend und angsteinflößend sind, wenn Leitbilder und Vorbilder fehlen, ist es schwer, „cool“ und rational zu bleiben. Es wird dann leicht emotional, und Gefühle drängen nach Eindeutigkeit und Einfachheit. Gefühlte Wahrheiten werden einer durchdachten vorgezogen Das Bedürfnis nach einer notfalls auch autoritären Durchsetzung des anscheinend verschüttet gegangenen „Richtigen“ macht sich breit. „Der eine sagt das, der andere dies und ein Dritter jenes. Wann kommt endlich mal einer, dem man glauben kann, und der sagt, was wirklich stimmt und es dann auch umsetzt?“ fragte eine ältere Dame kürzlich in einem ARD Interview.
Natürlich ist diese Beschreibung der aktuellen Entwicklungen einseitig. Die auch vorhandenen Fortschritte (z.B. gute Arbeitsmarktdaten in Deutschland oder die zurückgehende Armut in der Welt insgesamt) und Chancen (z.B. durch Globalisierung und Digitalisierung) sind unerwähnt. Und vielen Menschen geht es nach wie vor gut bis sehr gut, trotz weit verbreiteter Sorgen und Ängste. Selbstverständlich gibt es auch viele anständige und kompetente Manager, Politiker und Medienmacher. Eine wachsende und schon sehr beachtliche Minderheit sieht jedoch (auch durch die eigenen Erfahrungen) die negative Seite quasi unter dem Vergrößerungsglas, und Populisten helfen ihnen, diese schlicht und geradezu grotesk unterkomplex zu interpretieren. Diese gefühlsbestimmte Minderheit legt es darauf an, die Meinungsführerschaft zu übernehmen.
Was ist los in unseren Unternehmen?
Komplexität, Wettbewerbsdruck und hohe Rendite Erwartungen bestimmen in vielen Unternehmen die Wirklichkeit. Den besten Umgang damit versprechen Ansätze, die auf weitest gehende Kundenorientierung, maximale Flexibilität, ständige Innovation und hohe Entwicklungsgeschwindigkeit setzen. Solche agilen Ansätze gehen inkrementell voran, in kurzen, überschaubaren Schritten und mit ständigen Feedbackschleifen. Wichtiger als formale Techniken und Methoden sind dabei die Menschen – die permanente Zusammenarbeit mit dem Kunden und die Qualität der Teamarbeit zwischen den beteiligten Experten. Die Hierarchie spielt eine untergeordnete Rolle. Agiles Handeln erfolgt interdisziplinär und selbstorganisiert. In einem idealen Team treffen sich unterschiedliche Expertisen, Erfahrungen, Perspektiven und Kulturen. Alle Mitglieder kommen zu Wort, alle Beiträge sind willkommen und werden ernst genommen. Es herrscht eine Kultur des Respekts und des Vertrauens. Es geht weniger darum, etwas ganz genau zu wissen als vielmehr darum, einen Prozess des miteinander Denkens in Gang zu bringen und zu halten. Die vorhandene Vielfalt und Widersprüchlichkeit im Team werden ausgehalten und wertgeschätzt. Alle Beteiligten sind bereit, ihre jeweiligen Positionen grundsätzlich in Frage zu stellen und Dinge ganz neu zu überdenken, denn das Ziel ist es, über die Grenzen des individuellen Verstehens hinaus zu kommen. Ein solches ideales Team besitzt nachweislich das höchstmögliche Problemlösungspotenzial (siehe hierzu die einschlägige Literatur zur Kleingruppenforschung, z.B. Katzenbach, Smith: „The Wisdom of Teams“, Boston, 1993).
Agile Ansätze findet man in Teilbereichen von vor allem großen, global agierenden Unternehmen, und zwar dort, wo rasche Antworten auf schnell wechselnde Herausforderungen gefunden werden müssen, wo also die „VUCA Welt“ besonders spürbar ist. Der Übergang von konventionellen zu agilen Vorgehensweisen gelingt natürlich nicht ohne Probleme. Mein Kollege Dr. Stefan Hölscher hat vor wenigen Monaten eine empirische Studie veröffentlicht, in der es um die Herausforderungen bei agilen Arbeitsformen und um den Umgang damit geht (siehe Zeitschrift „Familiendynamik. Systemische Praxis und Forschung“, Klett-Cotta, Ausgabe 1/2018). Im Vordergrund der erlebten Schwierigkeiten stehen kulturelle Barrieren. Vor allem Führungskräfte, aber auch Kunden, haben große Mühe, sich von alten Mustern zu lösen. Erwartungsgemäß funktionieren auch die selbstorganisierten Teams nur selten wie im Lehrbuch. Nichtsdestotrotz wird berichtet, dass die neuen Ansätze unter dem Strich erfolgreich sind.
Ausführlichere Informationen zu agilen Konzepten befinden sich u.a. in verschiedenen Beiträgen in unserem Blog.
Eine Gegenüberstellung der Herangehensweisen
Weil sich Populismus und Agilität in ihren Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit so eklatant voneinander unterscheiden, und weil die Umgangsweise mit Komplexität und Veränderung für unsere Zukunft enorm wichtig ist, sollen im Folgenden die wichtigsten Aspekte dieser beiden Ansätze einander gegenübergestellt werden. Dazu vorneweg: Natürlich gibt es nicht den Populismus. Die aktuellen Beispiele von Trump, Erdogan, Putin, Le Pen, Höcke, Johnson oder Orban unterscheiden sich im Einzelnen. Bestimmte Muster und Weltsichten sind sich jedoch sehr ähnlich, auch zwischen rechten und linken Populisten. Aus Platz- und Aktualitätsgründen werde ich mich auf rechte Populisten konzentrieren. Agile Vorgehensweisen auf der anderen Seite unterscheiden sich auch voneinander, sie bestehen aus unterschiedlichen Ideen, Techniken und Prozessschritten. Jedoch teilen auch sie miteinander sehr ähnliche Grundannahmen und Werte. Die nachfolgende Gegenüberstellung ist vor diesem Hintergrund – zugegeben - etwas verallgemeinernd und verkürzt.
Der grundlegende Ansatz
Rechte Populisten setzen auf starke Männer, die (angeblich) Bescheid wissen, „das Volk“ verstehen und es repräsentieren. Homogenität wird beschworen und Diversität bekämpft. Das bedeutet freilich nicht Gleichheit, die Gesellschaft ist in diesem Denken hierarchisch stark gegliedert. Immer wieder schimmern uralte und wissenschaftlich längst widerlegte Mythen durch (Volk, Rasse, Blut und Boden, „die Natur“ des Mannes und der Frau etc.). Die Vorstellungswelt ist insgesamt statisch, vergangenheitsorientiert und in sich geschlossen.
Agile Konzepte sind von vornherein dynamisch und (ergebnis-)offen. Strukturen sind flach, die Hierarchie wird in den Hintergrund gedrängt. Diversität wird begrüßt und Vielfalt, z.B. Interdisziplinarität und Interkulturalität als Erfolgsfaktoren genutzt. Strukturen sind fluide, flexibel und selbstorganisiert bzw. die Selbstorganisation unterstützend.
Umgang mit Fakten und Ambiguität
Für Populisten gibt es Fakten und „alternative“ Fakten. Sie bedienen die in Umbruchzeiten typische Sehnsucht nach umfassenden Wahrheiten und gültigen, einfachen Antworten, d.h. nach Aufhebung von Mehrdeutigkeit und Komplexität. Schwierige Zusammenhänge werden auf eine oder auf sehr wenige Ursachen reduziert (z.B. Flüchtlinge), und immer wieder werden Verschwörungstheorien bemüht. Dabei handelt es sich oft um dreiste Lügengeschichten und wilde Behauptungen, die einer ernsthaften Überprüfung nicht standhalten können. Wissenschaft wird generell geringgeschätzt.
Agile Konzepte akzeptieren die Tatsache, dass es nicht möglich ist, komplexe Entwicklungen und Zusammenhänge vollständig zu verstehen und zu kontrollieren. Ambiguität ist die Normalität, die es auszuhalten gilt (auch wenn wir das gewöhnlich nicht mögen) und z.B. als Realitätsanzeiger und als Quelle von Inspiration und Kreativität zu nutzen. Das Vorgehen ist rekursiv und kleinschrittig bzw. inkrementell mit regelmäßigen Rückkoppelungsschleifen zur Überprüfung der Annahmen, der Prozessgestaltung und der Ergebnisziele. Wissenschaft wird grundsätzlich hochgeschätzt.
Lernen
Populisten wissen ja in ihrer überwiegend statischen Denkwelt bereits Bescheid. Deshalb ist lernen für sie zweitrangig oder sogar gefährlich.
Im Rahmen von agilen Konzepten ist lernen essentiell und niemals endend. Lernen ist hier die Voraussetzung, um einigermaßen komplexitätsgerechte Lösungen entwickeln zu können.
Bedeutung von Gefühlen
Gefühle äußern sich situativ, sie sind äußerst vielfältig und fluide. Sie können uns wichtige Hinweise geben oder uns dazu verleiten, voll gegen die Wand fahren.
Populisten betrachten Gefühle einseitig, man könnte auch sagen, naiv. Sie sind für sie die ultimative Instanz. Wenn der Durchblick in unserer komplexen Welt schwierig wird, hat für Populisten unser Bauchgefühl die richtige Antwort. Ihre Ansprachen zielen deshalb nicht von ungefähr auf Vorurteile und starke Emotionen wie Angst, Sehnsüchte, Wut und Neid.
In agilen Konzepten spielen Gefühle ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie stehen u.a. für Teamgeist, Motivation, Inspiration oder Neugierde. Sie indizieren außerdem Erfahrungs- und implizites Wissen. Allerdings gelten Bauchgefühle nicht absolut. Deshalb wird im Rahmen von agilen Konzepten großer Wert auf regelmäßige Reflektionen und Feedbackschleifen gelegt, also auf eine rationale Überprüfung dessen, was das Gefühl signalisiert.
Führer und Geführte
In einer populistischen Welt gibt es Führer und Gefolgschaft. Starke Männer stehen an der Spitze, die Menschen darunter müssen nicht allzu sehr über ihre eigene Verantwortung nachdenken. Ihre Mündigkeit oder gar Kritikfähigkeit sind nicht gefragt, dafür können sie aber erwarten, versorgt zu werden Die Bürger werden mit anderen Worten mehr oder weniger infantilisiert.
Agile Konzepte bauen dagegen ausdrücklich auf erwachsenes Verhalten, d.h. auf Selbstverantwortung, Eigeninitiative und persönliche Positionierung. Ohne diese Qualitäten kann Selbstorganisation nicht funktionieren. Führungskräfte wechseln ihre Rolle vom größten Experten und alleinigen Entscheider zum Ermöglicher (z.B. Sicherstellung von geeigneten Rahmenbedingungen), Unterstützer (z.B. beim Übergang zur Selbstorganisation) und Coach.
Was können wir von agilen Unternehmen lernen?
Agile Ansätze und Methoden werden mindestens schon seit 1995 diskutiert. Aber erst in den letzten Jahren findet man sie in der betrieblichen Praxis. Die äußeren Verhältnisse zwingen viele Unternehmen dazu, etwas Grundsätzliches zu verändern. Natürlich ist die Transformation schwierig, oft funktioniert sie (noch) nicht, obwohl große Budgets und Trainingsprogramme zur Verfügung stehen. Die vielen positiven Beispiele und Teilergebnisse zeigen aber, dass es gelingen kann, Realitätssinn, Effizienz, Experimentierfreude und Humanität zusammenzubinden um auf diese Weise überlegene Problemlösungen zu erreichen.
In welche Richtung sollten sich Gesellschaft und Politik bewegen?
Meines Erachtens müssen wissenschaftliches Denken und humanistische Werte auch in Zukunft die wichtigste Grundlage bilden. Wie sonst sollen Nachhaltigkeit, Risikominimierung und ein für alle akzeptables Zusammenleben gelingen?
Es ist eine Binsenwahrheit, dass Veränderungen stattfinden, gleichgültig, ob sie uns gefallen bzw. wir sie uns wünschen oder nicht. Man kann sie eine Weile ignorieren, aber mittelfristig wird das in der Regel teuer. Wer sie bekämpfen will, z.B. durch den Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren, riskiert noch viel mehr. Unternehmen riskieren ihre Existenz, Gesellschaften riskieren Demokratie, Freiheit, Mündigkeit und letztlich auch ihren wirtschaftlichen Wohlstand. Es gibt nur eine sinnvolle Möglichkeit, mit Komplexität und Veränderung umzugehen: Den Wandel offen angehen und versuchen, ihn möglichst weitgehend entsprechend den eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestalten. Positive Erfahrungen mit agilen Konzepten können uns dafür Hinweise liefern.
Strukturell könnte es helfen, analog zur Idee der Kundenorientierung mehr direkte Demokratie zu wagen (um einen berühmten Satz von Willi Brandt zu zitieren). Durch eine stärkere Einbindung von Bürgern und teilweise auch von externer, politisch „unverdächtiger“, also neutraler Expertise könnte das Problemverständnis bei allen Akteuren und damit die Chance auf problemadäquate Lösungen sowie die Akzeptanz ihrer Umsetzung wachsen. Es liegt auf der Hand, dass in der komplexen Welt von heute die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Strukturen parlamentarischer Demokratie nicht mehr ausreichen. Formell, informell und institutionell sollte sich einiges ändern. Vorschläge dazu gibt es, z.B. von dem Soziologen Helmut Willke („Dezentrierte Demokratie. Prolegomena zur Revision politischer Steuerung. Suhrkamp Verlag 2016).
Auf der Verhaltensebene liegt es nahe, von den Regeln und Werten funktionierender selbstorganisierter Teams zu lernen. Für die maßgebenden und besonders einflussreichen Personen und Politiker ist mehr Bescheidenheit, besseres Zuhören und der Aufbau von mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen essentiell. Alleine können sie es jedoch nicht schaffen. Es braucht Vorbilder und sehr viel bürgerschaftliches Engagement und Initiative auf allen Ebenen. Insgesamt ist eine Intensivierung der Kommunikation auf und zwischen den gesellschaftlichen Ebenen und Segmenten erforderlich, und zwar in vernünftigen Auseinandersetzungen, die geprägt sind von Respekt, Wahrheitsliebe und Verantwortungsbewusstsein. Ohne diese Qualitäten kann Demokratie ganz allgemein nicht funktionieren, sie sind ihre wichtigsten Spielregeln.
Angesichts der aktuell alarmierenden Lage und der vielen perspektivischen Herausforderungen ist vielerorts Resignation und ein Rückzug ins Private zu beobachten. Würde dieses Verhalten zum Standard werden, wäre das fatal, denn das Gegenteil ist notwendig. Liberale Demokratien gibt es nur in wenigen Ländern auf der Welt, und in den meisten davon erst seit wenigen Jahrzehnten. Wir sind damit aufgewachsen und finden sie selbstverständlich, aber die historischen Wurzeln sind kurz und wir laufen Gefahr, das Maß ihrer Gefährdung zu unterschätzen. Sie zu verteidigen ist mühsam und oft frustrierend, aber es lohnt sich, denn es steht viel auf dem Spiel.