Agilität ist derzeit in aller Munde und erweckt oft den Eindruck, ein Modewort zu sein. Was ist dran an diesem Hype? Ist es mehr als nur alter Wein in neuen Schläuchen? Und wenn ja, was können und was brauchen agile Methoden, um zu funktionieren?
Das Besondere an agilen Methoden
Bekannt und populär wurden agile Methoden wie Scrum, XP oder Kanban in der Softwareentwicklung, wo sie mittlerweile zum professionellen Standard gehören. Sie bieten einen konzeptionellen Rahmen für die Durchführung von Projekten. Ihre Wurzeln liegen in Japan (Lean Development und Lean Production) und sie sind eine Antwort auf die Schwächen klassischer Methoden. Diese setzen auf detaillierte Planung, man arbeitet sich in fest definierten Schritten innerhalb von klar abgegrenzten Abschnitten langsam und konsequent in Richtung Ergebnis vor. Dummerweise gibt es in der Realität jedoch ständig Veränderungen, die in der Folge ständige Plananpassungen erfordern. Oft führt das zu einer Überforderung. Man ignoriert dann die Veränderungen oder passt die Pläne nur unvollständig an. Am Ende stehen die Ergebnisse, die man geplant hat, aber nicht die, die man braucht. Agile Methoden basieren auf der Erkenntnis, dass komplexe Verhältnisse durch noch so komplizierte Methoden und Verfahren nicht komplett eingefangen werden können. Deshalb gehen sie iterativ und inkrementell voran, in kurzen, überschaubaren Schritten und mit ständigen Feedbackschleifen: Inwieweit entspricht das Ergebnis den Erwartungen? Stimmen die Erwartungen überhaupt noch? Wie gut haben sich die verwendeten Methoden und Verfahren bewährt? Wie gut war die Zusammenarbeit im Team? Was konnten wir lernen, was müssen wir ändern? Es gibt bei agilen Methoden weit weniger Vorgaben und einen wesentlich geringeren Dokumentationsaufwand als bei den klassischen Vorgehensweisen. Mit Überraschungen wird selbstverständlich immer gerechnet. Sogar wie das Produkt am Ende auszusehen hat, entscheidet sich erst im Laufe des Arbeitsprozesses. Wichtiger als formale Techniken und Methoden sind bei agilen Methoden die Menschen – die permanente Zusammenarbeit mit dem Kunden und die Qualität der Teamarbeit zwischen den beteiligten Experten. Die Hierarchie spielt eine untergeordnete Rolle, weit wichtiger ist eine funktionierende Selbstorganisation.
Das grundsätzlich experimentelle Vorgehen bei agilen Methoden, das Zurückdrängen von Hierarchie und die Betonung von Personen und Interaktionen finden sich in ähnlicher Weise auch bei anderen derzeit populären Ansätzen, dem „Design Thinking“ und dem „Effectuation-Prinzip“. Die Methoden sind gut miteinander kombinierbar, auch außerhalb der Softwareentwicklung. Ihr Versprechen, besser als konventionelle Verfahren mit Komplexität umgehen zu können und Innovationen zu ermöglichen, haben sie mehr als einmal eingelöst.
Scrum als ein Beispiel
Scrum ist die wohl bekannteste und am meisten genutzte agile Methode. Der Name kommt aus dem Rugby und heißt übersetzt „Gedränge“. Auch für Scrum gibt es nur wenige Regeln, diese sollten aber strikt eingehalten werden. Grundsätzliche Orientierung vermittelt ein vergleichsweise grober und langfristig angelegter Plan (Product Backlog), der die Anforderungen aus der Sicht der Anwender enthält und der kontinuierlich verfeinert und verbessert wird. Für das operative Handeln gibt es einen Detailplan (Sprint Backlog) für einen 2-4 Wochen umfassenden Zeitabschnitt (Sprint). An dessen Ende steht ein fertiges Teil-produkt (Product Increment). Bevor der nächste Sprint beginnt, werden Produkt, Anforderungen und Vorgehen überprüft und gegebenenfalls modifiziert. Innerhalb von Scrum gibt es drei Hauptrollen: Der Product Owner pflegt das Product Backlog. In diesem Zusammenhang erstellt, priorisiert und erläutert er die zu entwickelnden Produkteigenschaften und steuert damit u.a. die Auslieferungs-zeitpunkte und Kosten. Der Scrum Master führt die Scrum-Regeln ein und überprüft deren Einhaltung, er coacht, moderiert die Treffen und kümmert sich um die Behebung von Störungen und Hindernissen. Das Entwicklungsteam schließlich liefert die Teilprodukte. Es ist interdisziplinär zusammengesetzt und besteht aus drei bis neun hochqualifizierten Experten, die sich und ihre Arbeit selbst organisieren. Das ideale Teammitglied ist sowohl Spezialist als auch Generalist, damit es Teamkollegen bei Bedarf helfen kann, das gemeinsame Ziel zu erreichen.
Alter Wein in neuen Schläuchen?
Tatsächlich sind die grundlegenden Überlegungen bezüglich agiler Methoden schon 20 Jahre alt oder älter. Dasselbe gilt für die verwandten Ansätze Design Thinking und Effectuation. Der erste Konferenzbeitrag zu Scrum wurde beispielsweise 1995 veröffentlicht. Offenbar wird in vielen Unternehmen aber erst in jüngerer Zeit die Notwendigkeit gesehen, die Ideen umzusetzen. Vielleicht spielt der Herdentrieb auch eine gewisse Rolle. Neu ist jedenfalls die Konkretisierung und Verfeinerung der Konzepte, was u.a. mit den inzwischen gemachten Erfahrungen zusammenhängt. Beratungsfirmen betreiben heute kräftig Marketing für agile Methoden, neue Lehrstühle werden eingerichtet und bestehende Lehrstühle greifen das Thema auf. So werden agile Methoden bekannter und leichter umsetzbar. Es wird weithin untersucht und fortentwickelt, lessons learnt verbreitet und Neues ausprobiert.
Erfolgsvoraussetzungen
Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigt, dass agile Methoden sehr erfolgreich sein können. Aber natürlich ist der Erfolg nicht selbstverständlich. Eine ganze Reihe von Erfolgsfaktoren muss erfüllt sein, damit sich die gewünschten Ergebnisse einstellen.
Ein Herzstück der Methoden sind die interdisziplinär zusammengesetzten, sich selbst organisierenden Teams. Ob mit Hilfe beispielsweise von Scrum Produkte bedarfsgerechter, schneller, günstiger und/oder qualitativ hochwertiger entwickelt werden, hängt sehr stark davon ab, wie das Team interagiert und was es aus den Erfahrungen der aufeinanderfolgenden Sprints lernt.
- Selbstorganisation im Team
Selbstorganisation heißt, dass die beteiligten Experten das Geschehen selbst gestalten und jeder Einfluss nehmen kann. Dadurch wächst im Allgemeinen die Motivation. Das Wissen und die Kreativität der Beteiligten gehen voll in den Prozess ein. Durch das kollegiale Miteinander kann jeder von jedem lernen und durch die Kombination von Wissen kann neues Wissen entstehen. Der gemeinsame Problemlösungsprozess kann in einer positiven Arbeits-atmosphäre auch implizites, d.h. durch Erfahrung gewonnenes und nicht unmittelbar verfügbares, in Worten ausdrückbares Wissen sichtbar und damit nutzbar machen. Mit anderen Worten: Selbstorganisation ermöglicht eine maximale Nutzung des im Team vorhandenen Wissens und bereitet eine Grundlage für kreative Problemlösungen. Auf der anderen Seite ist Selbstorganisation aber auch höchst voraussetzungsreich und labil. Sie benötigt die Bereitschaft der Teammitglieder, selbst mit zu denken, eigeninitiativ zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Mit einer solchen Haltung ist nicht selbstverständlich zu rechnen. Die wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass das Team via Selbstorganisation sein volles Leistungsvermögen erreicht, sind die Folgenden:
a. Die Teammitglieder kennen sich schon eine Weile, sie sind „eingespielt“ und vertrauen sich untereinander. Dadurch reduziert sich die Zahl der Missverständnisse, unnötige Konflikte werden vermieden und die internen Verabredungen sind tragfähig und zuverlässig.
b. Die Teammitglieder sind motiviert und ehrgeizig. Dafür muss jeder einen Sinn in der gemeinsamen Arbeit sehen und das Anspruchsniveau darf sich nicht mit angenehmer Mittelmäßigkeit begnügen.
c. Das Team schottet sich nicht nach außen ab, auch wenn genau dies bei Teams mit größerer Kohäsion eine gruppendynamische Tendenz ist. Offenheit nach außen schließt die Nutzung externen Wissens und externer Erfahrungen ein.
d. Im gruppendynamischen Prozess entstehen im Team keine festen Machtstrukturen und sich gegenüberstehende Allianzen. Das Maß an Eitelkeiten und Rivalitäten übersteigt keinen kritischen Wert.
e. Die Teammitglieder können konstruktiv mit den notwendigen Konflikten im Team umgehen. Konflikte sind im Team ein Nadelöhr zur Leistungsentfaltung, weil die unterschiedlichen Meinungen, Expertisen und Ideen nur dadurch sichtbar und bearbeitbar werden, dass sie offensiv vorgetragen werden, gleichgültig, ob sie jemandem (nicht) gefallen und ob sie auf den ersten Blick im Widerspruch stehen zu anderen Meinungen, Expertisen und Ideen.
- Unternehmenskultur
Offensichtlich spielt das kulturelle Umfeld der Teams eine große Rolle. Wie wird in der Organisation typischerweise mit Konflikten umgegangen? Welche Rolle spielt die Hierarchie? Wie ernst wird die Idee des Empowerments genommen? Und nicht zuletzt: Welche Fehlerkultur herrscht vor? Agile Methoden arbeiten nach dem Prinzip Versuch und Irrtum und sind auf die Experimentierfreude und Eigeninitiative der Teammitglieder angewiesen. Kulturen, die eine solche Haltung fördern, bilden einen guten Nährboden. Kulturen, die dagegen auf null Fehler setzen, in denen Hierarchie und Kontrolle großgeschrieben werden, in denen straff geführt wird und alleine der Chef sagen darf, was gut und richtig ist, werden mit agilen Methoden keinen Erfolg haben.
- Führung
In einem agilen Umfeld muss sich Führung ganz wesentlich als Dienst-leistung verstehen und kooperativ handeln. Für agile Teams sind klare und möglichst stabile Rahmenbedingungen wichtig, damit sie sich auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können. Kreativität und der problemorientierte Einsatz von Wissen und Erfahrung verlangen weiterhin ein hohes Maß an Vertrauen. Das schließt angemessene Formen der Leistungs- und Verhaltenskontrolle nicht aus. Sie sollten jedoch überwiegend als konstruktives Feedback, als unterstützende Rückkoppelung erfolgen.
- Teammitglieder
Traditionelles Führungsverhalten in einer streng hierarchischen und mecha-nistisch geordneten Organisation mit klaren Anweisungen und Kontrollen hat, psychologisch gesehen, durchaus Vorteile. Für die Mitarbeiter bedeutet es zwar geringe Mündigkeit, aber dafür Eindeutigkeit, Sicherheit und Berechenbarkeit. Mehrdeutigkeit, Unvorhersehbares und Unkontrollierbares ängstigen, den einen mehr und den anderen weniger. Gefühle drängen nach Eindeutigkeit und verlangen einfache, möglichst vertraute Antworten. Damit die Selbstorgani-sation in agilen Teams funktionieren kann, braucht es deshalb Mitglieder, die mit Mehrdeutigkeit gut umgehen können, vielleicht sogar Spaß daran haben, die wenig Erwartungssicherheit benötigen, die eigeninitiativ und eigen-verantwortlich unterwegs sind und sich selbst in einem vergleichsweise schwach strukturierten Umfeld gut managen können.
Zusammengefasst:
Agile Methoden haben zu Recht einen prominenten Platz in unseren Organi-sationen gefunden. Sie können besser als herkömmliche Verfahren mit Komplexität umgehen und Innovationen herbeiführen. Dafür müssen aber wichtige Voraussetzungen erfüllt sein, die bis heute keineswegs selbst-verständlich sind. Um das volle Potenzial agiler Methoden ausschöpfen zu können, ist vielerorts noch eine Menge an Organisations- und Personal-entwicklungsarbeit zu leisten.