Der Begriff der Wissensgesellschaft. Robert E. Lane hat ihn 1966 erstmals verwendet („knowledgeable societies“) und Daniel Bell („The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting”) hat ihn 1973 weiter popularisiert. Gemeint ist die in der Zwischenzeit fast schon Allgemeingut gewordene Vorstellung, dass individuelles und kollektives Wissen und seine Organisation zur wichtigsten Grundlage des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens geworden ist. Unsere heutigen Erfahrungen geben dem weitgehend Recht, denn die in Produkte und Verfahren eingebaute Intelligenz ist fast überall ausschlaggebend geworden für die Wettbewerbsfähigkeit auf den Märkten. Für die großen Konzerne gilt das schon länger, aber seit einiger Zeit stimmt diese Aussage auch für lokal operierende Mittelständler, die sich mehr und mehr gezwungen sehen, sich auch mit Wettbewerbern aus entfernten Gegenden der Welt auseinanderzusetzen. Einfache, teuer hergestellte und leicht imitierbare Produkte und Leistungen haben zumindest mittelfristig kaum mehr eine Chance. Traditionelle Geschäftsbeziehungen und Kundenbindungen verlieren an Wert, wenngleich eine vorbildlich praktizierte Kunden- und Serviceorientierung weiterhin eine Möglichkeit darstellt, wenigstens geringe Preisnachteile auszugleichen. Nichtsdestotrotz wirkt „Geiz ist geil“ als Motto auf den meisten Märkten dieser Welt. Nur für interessante Innovationen lassen sich vorübergehend gute Preise erzielen, und diese basieren in aller Regel auf umgesetztem Wissen „state of the art“.
Vor diesem Hintergrund hat „Wissensmanagement“, als eine neue Disziplin Konjunktur bekommen. Sie steckt in vielerlei Hinsicht noch in den Kinder-schuhen, man muss aber kein Prophet sein um vorauszusagen, dass ihre Bedeutung in Zukunft weiter stark zunehmen wird. Hintergrund dafür ist neben der Erkenntnis, dass es in den Märkten auf Wissen ankommt, der zunehmende Verdacht und auch die Erfahrung, dass eine Menge an sich verfügbaren Wissens in den Unternehmen ungenutzt bleibt und brach liegt. Schätzungen liegen bei Größenordnungen zwischen 20 und 60%. Auch wenn solche Aussagen sehr spekulativ sind, deutet sich damit eine gewaltige Verschwendung der vielleicht wichtigsten Ressource in unseren Organisationen an.
Der übliche Ansatz beim Wissensmanagement geht von der Unternehmens-strategie aus und leitet daraus die notwendigen Wissensbestände ab. Diese werden verglichen mit den im Unternehmen gegebenen Wissensbeständen. Wissensmanagement fragt nach Möglichkeiten der Wissensidentifikation und der Wissensspeicherung und interessiert sich für den Prozess des Wissenserwerbs, der Wissensnutzung und der Wissensverteilung. Relevante Aspekte sind die verwendbare Technik (z.B.: Wie lässt sich relevantes Wissen digitalisieren und in Datenbänken speichern?), die Organisation (z.B.: Wie lassen sich individuelle Wissenszugänge sinnvoll öffnen oder schließen?), die Kultur (z.B.: Wie lässt sich eine Haltung „Wissen ist Macht“ vermeiden, wie der Wissensaustausch untereinander, die Wissensgenerierung und das konstruktive Einmischen in laufende Prozesse zu ihrer Verbesserung zu einer erwünschten Selbstverständlichkeit werden?), die beteiligten Personen (z.B.: Wie verhalten sich die Wissensträger, die Entscheidungsvorbereiter und die Entscheider jeweils und in ihrem Zusammenspiel?).
In der Vergangenheit konzentrierte sich die Aufmerksamkeit vor allem auf technische Aspekte. Die bisherigen Erfahrungen mit Datenbanken sind jedoch ernüchternd. Sie bleiben leer oder quellen über und werden enttäuschend wenig genutzt. Deutlicher ist auch durch diese Erfahrung die Natur von Wissen geworden. Wird Wissen festgehalten und archiviert, wird es quasi vergegenständlicht. Vergegenständlichtes Wissen ist jedoch zunächst einmal totes Wissen, das zu seiner Verlebendigung Anwendung braucht. Und um archiviertes Wissen anzuwenden, muss es situativ immer wieder modifiziert, ergänzt oder differenziert werden. Wirksam wird archiviertes Wissen dann, wenn es sich verbindet mit dem praktischen und intuitiven Wissen des Anwenders, das auf teilweise gar nicht mehr erinnerbaren Anwendungs- und Umsetzungs-erfahrungen basiert. Mit anderen Worten: Wissen ist grundsätzlich persönlicher Natur und das Ergebnis individueller Lebens- und Lerngeschichten. Ein Großteil davon ist implizit, schwer in Worte zu fassen und häufig umschrieben als „Fingerspitzen-„ oder „Bauchgefühl“. Wir alle wissen aus diesem Grund viel mehr als wir (bewusst) wissen. Bewusstes und unmittelbar erklärbares Wissen stellt nur so etwas wie die Spitze eines Eisberges dar. Angesichts dieser Erkenntnis lautet dann die zentrale Frage: „Wie kann es gelingen, das in einer Organisation verborgene und selbst den Akteuren nicht voll bewusste Wissen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu aktivieren und für die Organisation wirksam werden zu lassen?
Expertensysteme und Wissensdatenbanken werden weiterhin sinnvoll und wichtig bleiben. Sie werden sich in ihrem Aufbau und ihren Nutzungsmöglichkeiten weiter entwickeln. Allerdings werden die anderen Aspekte (Organisation, Kultur, Personen) deutlich stärker in den Vordergrund rücken. Vor allem das Verhalten der beteiligten Personen und die sozialen Gruppierungen und Gremien, die Wissen entwickeln, austauschen und nutzen, werden immer bedeutsamer.
Im Blickfeld befinden sich so auch die Träger großer Teile des relevanten Wissens, die Fachexperten in den Organisationen. Wenn sie schon selbst nicht genau wissen, was sie alles wissen, wie soll dann ihre soziale Umgebung, wie sollen ihre Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeiter wissen, was sie im Hinblick auf eine bestimmte Problemsituation beitragen könnten? Um in ihren Organisationen wirksam zu werden, genügt es daher nicht, darauf zu warten, bis jemand „anklopft“. Proaktives Handeln ist gefordert, was u.a. heißt, sich konstruktiv in relevante Entscheidungsprozesse einzumischen, wenn zumindest das deutliche Gefühl aufkommt, dass etwas schief läuft oder Chancen versäumt werden. Inwieweit gelingt es Fachexperten, ihr Wissen und ihre Erfahrung in die laufenden Entscheidungsprozesse einzuspeisen? Inwieweit kämpfen sie darum, gehört und verstanden zu werden, und inwieweit begnügen sie sich damit, Entscheidungen konstruktiv zu beeinflussen, ohne der Verführung zu erliegen, direkt oder indirekt selbst zu entscheiden, wenn das die Sache des Managements ist? Über solche Fragen entscheidet sich die Wirksamkeit von Experten in der Organisation.
Zur Rolle des Experten gehört es allgemein, Entscheidungen vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass seine fachlichen Überlegungen zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, im Beisein der richtigen Personen gehört und verstanden werden. Zur komplementären Rolle des Managers gehört es, Entscheidungen zu komplexen Sachverhalten zu treffen, die für sie nicht wirklich überschaubar und beherrschbar sind, zum einen weil sie das schon an sich nicht sind, und zum anderen, weil Manager natürlich auch nicht die ganze Breite und Tiefe des Fachwissens ihrer Mitarbeiter besitzen können. Besäßen sie dieses Wissen, bräuchten Manager ihre Fachexperten nicht. Häufig sind Entscheider gleichzeitig von mehreren Fachexperten unterschiedlicher Couleur umgeben, die jeweils ganz bestimmte Einzelgesichtspunkte mit Nachdruck fokussieren (Strategie, Technik, Recht, Marketing, Controlling etc.), die verglichen, abgewogen und zusammengeführt werden müssen. Manager handeln grundsätzlich und nicht vermeidbar unter Unsicherheit, also riskant – und müssen Verantwortung für die von ihnen herbeigeführten Ergebnisse übernehmen. Sie sind in diesem Prozess abhängig von der Qualität, der Loyalität und der Rollenkonformität des Verhaltens ihrer Fachleute.
Damit erhalten auch Experten große Verantwortung für die Entwicklung ihrer Organisationen. Beispielsweise wäre die Geschichte der Schweizer Uhrenindustrie u.U. anders verlaufen, wenn sich diejenigen, die den Umschwung der Technik von der Mechanik zur Elektronik und das dementsprechende Käuferverhalten vorausgesehen haben, früher, deutlicher und eindringlicher bei den maßgeblichen Entscheidern zu Wort gemeldet hätten.
Wirksame Fachexperten entsprechen nicht dem Stereotyp des introvertierten, menschenscheuen Forschers und Bastlers, der abgewendet von der Welt möglichst alleine und ungestört vor sich hin werkelt. Vielmehr wird der unternehmerisch denkende, kontakt- und überzeugungsstarke, mit allen Wassern gewaschene Expertentyp gebraucht. Unternehmerisch heißt, dass er durch die Brille seiner ganz speziellen Fachexpertise schauend aufkommende Chancen und Risiken für das Unternehmen identifiziert und sich beherzt einmischt. Natürlich setzt das voraus, dass er eingebunden ist in die relevanten strategischen Diskussionen. Kontakt- und überzeugungsstark handeln heißt, dass er sich wirksam einmischt, so dass er wahrgenommen, akzeptiert und mit dem, was er sagt, richtig verstanden wird. Mit allen Wassern gewaschen muss er sein, um rechtzeitig interessensbezogene bzw. mikropolitische Manöver durchschauen und kontern zu können, die unter dem Gesichtspunkt seiner Expertise zu ungünstigen Ergebnissen für das Unternehmen führen müssten. Er wird in diesem Fall zum Anwalt der Sachrationalität im Sinne der gemeinsamen Unternehmensziele. Und gute Anwälte sind clever und smart, nicht naiv.
Nach unseren Erfahrungen entspricht diese Vorstellung nur selten dem Selbstbild von Fachexperten in Organisationen. Oft haben sie auch keinen Grund, sich so zu definieren, weil sie sich ganz anders behandelt und angesprochen erleben. Viele Fachexperten erleben sich in ihrer Rolle als zweitrangig. Führungskräfte in der Linie erhalten ihnen gegenüber eine viel größere Aufmerksamkeit, einen höheren Status, bekommen mehr Geld und großzügigere Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Mancher Experte, der beruflich vorankommen möchte, wechselt deshalb in die Führungslaufbahn, wodurch das Unternehmen einen wichtigen und begabten Fachmann verlieren und einen höchst durchschnittlichen Manager gewinnen kann. Ausformulierte Fachlaufbahnen gibt es nur selten, sie sind auch viel schwerer zu definieren und zu operationalisieren. Vielerorts wird vor der Einführung von Fachlaufbahnen auch deshalb zurückgeschreckt, weil damit deutliche Personalkostensteigerungen befürchtet werden. Experten, die sich nichtsdestotrotz entscheiden, Experten zu bleiben, verlieren durch die von ihnen so verstandene mangelnde Wertschätzung nicht selten an Selbstvertrauen. Dadurch verliert das, was sie zu sagen haben, an Kraft und Deutlichkeit – wenn sie denn überhaupt etwas sagen.
Die Effektivität von Experten hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Ihre Einbindung in die Organisation und die Wertschätzung, die sie dadurch, aber auch sonst erfahren, fördern Motivation und Selbstvertrauen. Geeignete Strukturen helfen Experten, sich an die wichtigen Kommunikations- und Entscheidungsströme anzuschließen, um rechtzeitig Kenntnis zu gewinnen von den jeweils aktuellen Themen, und um andererseits besser in der Lage zu sein, sich proaktiv einzubringen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist ihre Qualifikation. Natürlich ist die Basis ihres Handelns ihre Fachkompetenz. Aber die hinzu kommenden unternehmerischen, sozialen und persönlichen Kompetenzen bestimmen ihren Wirkungsgrad in der Organisation. Bewährte Instrumente wie Seminare, Workshops und Coaching „off the job“ sowie unterschiedliche arbeitsplatznahe Maßnahmen stehen bereit. In den meisten Unternehmen gewinnen angehende Führungskräfte durch gezielte Personalentwicklung Orientierung über ihre Rolle und über rollenkonformes und effektives Verhalten. Auf prinzipiell gleiche Weise können Fachexperten zum Vorteil ihrer Organisationen gestärkt und qualifiziert werden.