[Dieser Artikel basiert auf dem Beitrag „Der einzig wahre Unternehmenssinn ist Unsinn“ von Stefan Hölscher, erschienen in managerSeminare Heft 252, März 2019, S. 16 – 17.]
Die Unternehmen haben den Sinn, neudeutsch: „purpose“, entdeckt. Im expliziten Unterschied zu reinen, profanen Zahlenzielen ist damit ein „höheres Ziel“, ein „tieferer Sinn“ im Sinne eines „gesellschaftlichen Beitrags“, gemeint, der die Unternehmen nun umtreibt und nicht nur sie, sondern natürlich auch die Beraterzunft – bereit den Unternehmen bei der Sinnsuche systematisch unter die Arme zu greifen – sowie einschlägige Publikationen und Zeitschriften, so z.B. der Leitartikel vom managerSeminare Januar Heft 2019, der sicher nicht zufällig den Titel trägt „Führungsaufgabe Purpose. Sinn machen! (managerSeminare, Heft 250, Januar 2019).
Zeitgleich mit der allgemeinen Mobilmachung zur tieferen bzw. höheren Sinnsuche finden sich passenderweise auch Studien, die zu belegen scheinen, dass Sinn sich lohnt. So heißt es etwa in dem genannten Purpose-Artikel in Bezug auf einen von Ernst & Young herausgegebenen „Global Leadership Forecast“ 2018: „Die Studie stellt fest, dass Unternehmen, die „ihre eigene Bestimmung kennen und leben“ – sogenannte Purposeful Organisations – um 42 Prozent bessere Finanzergebnisse als der Durchschnitt vorweisen können.“ (Sylvia Lipkowski, managerSeminare, Heft 250, Januar 2019). Das ist doch schön: wenn ein Unternehmen seinem höheren, gesellschaftlichen Ziel nur konsequent folgt, erreicht es offenbar zugleich auch das niedere Ziel der Ertragsoptimierung, was ja höchstens nachrangig angestrebt worden war. Was will man mehr?
Im Ernst: Nach einem über den Tag hinaus weisenden „Wozu“ und „Warum“ des Tuns zu fragen, macht natürlich „Sinn“ – sowohl für Individuen wie auch für Organisationen. Wenn Menschen für sich klar erkannt haben, was ihnen wirklich wichtig ist im Leben, welche Leitlinien und Ziele sie auch langfristig verfolgen, woran sie ihr Handeln maßgeblich ausrichten wollen, so haben sie in der bunten Gemengelage des Lebens bestehend aus unterschiedlichsten Anforderungen, Erwartungen und Wünschen - äußeren wie inneren -, aus Ereignissen, Entwicklungen und Veränderungen, aus glücklichen Umständen und Schicksalsschlägen, eine deutlich bessere Chance auf einen kraftvollen persönlichen Kurs; und zwar sowohl darauf, einen solchen überhaupt zu finden wie auch darauf, ihn, wenn es gerade mal wieder turbulent oder kritisch wird, zu halten bzw. wiederzufinden. Klarheit darüber, was für einen selbst langfristig wichtig ist und was ein sinnvolles Leben ausmacht, hilft Menschen also, das eigene Leben zufriedener, balancierter und mit stärkerer Energie zu führen.
Ähnlich sieht es auch für Organisationen aus: Wenn den Führungskräften und Mitarbeitenden einer Organisation die zentralen Ziele und Zwecke der Organisation deutlich bewusst sind, wenn sie persönlich hinter diesen Zielen und Zwecken stehen und wenn sie wissen, welchen Beitrag sie mit ihrem eigenen Handeln zur Realisierung dieser Ziele und Zwecke leisten können, dann hat diese Organisation eine gute Chance, auch in turbulenten Zeiten erfolgreich auf Kurs zu sein. Die Schärfung von Sinn und Sinnbewusstsein zur Stärkung der gemeinsamen Ausrichtung lohnt sich für Organisationen also ganz grundsätzlich. Ganz besonders lohnt sie sich aber natürlich unter den Bedingungen einer VUCA Welt mit all ihrer Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität.
Im Zusammenhang mit der Arbeit am „purpose“ beruft man sich dabei gerne auf Simon Sinek und seinen schon 2009 gehaltenen, aber immer noch auf der Top Ten Liste der TED Präsentationen stehenden Vortrag „Start with the why.“ Um sich ernsthaft und fruchtbar mit Sinn- und Zweckthemen zu befassen, hätte man sich grundsätzlich zum Beispiel auch auf Viktor Frankl oder Aristoteles beziehen können. Während ersterer geprägt durch seine Erfahrungen in einem Konzentrationslager im Nationalsozialismus eine existenzialistisch geprägte Konzeption der Bedeutung von Sinn für das menschliche Leben generell entwickelt hat, hat letzterer dem Begriff des „Telos“ [altgriechisch für „Ziel“ und „Zweck“] eine prominente Rolle in seiner gesamten Philosophie gegeben. Anders als Frankl und Aristoteles ist der Unternehmensberater Sinek aber natürlich mehr Management-like; und das zeigt sich nun nicht nur daran, dass sein Konzept sich direkt an die Adressatengruppe der Manager und ihre Bedürfnisse wendet; sondern es zeigt sich auch daran, dass Sinek mit seinem Ansatz sogleich einen Anspruch erhebt, der durchaus typisch in der Welt der Managementkonzepte ist: nämlich, um es etwas philo-sophisch zu sagen, einen Anspruch auf Essenzialität und Universalität. Beides aber ist fatal.
Der von Sinek und den von ihm inspirierten Purpose-Jüngern behauptete Essenzialismus offenbart sich besonders in der Annahme, dass es die eine wahre Bestimmung eines Unternehmens gäbe, die es dann aufzuspüren gälte. So gut nun aber die Idee ist, dass für Unternehmen auch ein gesellschaftlicher „höherer“ Zweck zentral ist, so naiv ist die Idee, dieser Zweck sei der einzig „wahre“ und jeder andere entsprechend irgendwie „unwahr“. Es ist ähnlich wie im Falle von Individuen: In aller Regel bezieht sich auch bei Menschen, die eine ausgeprägte Klarheit im Denken und Handeln über das für sie im Leben wirklich Sinnstiftende erlangt haben, das Thema Sinn nicht bloß auf einen, sondern auf mehrere Aspekte, zum Beispiel berufsbezogene, partnerschaftliche, familiäre, körper- und aktivitätsbezogene etc. Und diese Aspekte sind nicht nur heterogen, sondern oft auch in Spannung zueinander, so dass es immer wieder eine Herausforderung darstellt, sie einigermaßen gut miteinander zu balancieren. All die unterschiedlichen zentralen Sinnaspekte sind allerdings für die jeweilige Person gleichermaßen „wahr“ und relevant, auch wenn sich natürlich im Laufe der Zeit Veränderungen ergeben können, die sich zum Beispiel auf die Gewichtung der einzelnen Aspekte untereinander, nicht jedoch auf das Faktum ihrer grundsätzlichen Pluralität beziehen.
Genauso ist es auch im Fall von Unternehmen. Sie verfolgen unterschiedliche Ziele und Zwecke, unter anderem auch, weil sie so verschiedene Anspruchsgruppen wie Kunden, Mitarbeitende, Kooperationspartner, Lieferanten, Gesellschaft, Gesetzgeber etc. zu bedienen haben. Zu den zentralen Zwecken und Zielen eines Unternehmens können dabei gesellschaftliche genauso wie finanzielle Aspekte gehören. Und sie können nicht nur, sondern tun es meistens auch. Der gesellschaftliche Zweck ist dabei aber nicht „wahrer“, „höher“ oder „tiefer“ als der finanziell-ertrags- und existenzsichernde. Diese Ziele und Zwecke liegen nur auf unterschiedlichen Ebenen und können natürlich auch in Konflikt miteinander geraten, wie das bei Zielen, die in unterschiedlicher Weise wesentlich sind und gleichzeitig nach Realisierung rufen, ganz grundsätzlich der Fall ist. Die Idee von dem einen wahren Zweck- und Beweggrund eines Unternehmens klingt also zwar schön und geradezu metaphysisch beruhigend (die Tradition des Monotheismus lässt grüßen), sie ist aber grob vereinfachend, um nicht zu sagen falsch.
Das Gleiche gilt für den universalistischen Anspruch, den Sinek und die Purpose Epigonen mit ihrem Ansatz verfolgen. Verlangt wird nämlich, um die vorhandenen Erfolgspotenziale langfristig auch voll auszuschöpfen, nichts weniger, als dass sich nun aus dem Purpose des Unternehmens „jede einzelne Unternehmensentscheidung ableiten lässt“ (zitiert nach managerSeminare, Heft 250, Januar 2019, S. 22). Hier hätte man denn nun endlich den Kompass, der einem bei jeder Wetterlage auch in den wilden Wogen der VUCA Welt endlich klar die Richtung weist. Mit einem solchen Werkzeug bewaffnet, müssen wir uns keine Sorgen mehr um Morgen machen. Der Weg zum dauerhaften Erfolg wäre gesichert - wenn, ja wenn da nur eben nicht immer wieder diese bunte Gemengelage aus unterschiedlichsten Zielen, Erwartungen, Motivationen, Spielfeldern und Kontextbedingungen wäre, die all das ein wenig vereitelt.
Alle Entscheidungen in einem Unternehmen quasi deduktiv aus einem Kernprinzip ableiten zu können – unabhängig vom Inhalt dieses Prinzips – wird vermutlich für immer ein frommer Wunsch bleiben. Erstrebenswert ist es aber sicherlich, dass möglichst alle wichtigen Unternehmensentscheidungen und Aktivitäten möglichst stark im Einklang oder zumindest nicht im Widerspruch mit den zentralen Unternehmenszielen und –zwecken stehen. Dies zu erreichen, ist sportlich genug!
Was folgt aus alledem? Eine möglichst hohe Klarheit darüber zu entwickeln, warum und wozu man die Dinge, die man tut, eigentlich tut und woran man sich dabei maßgeblich orientieren will, ist absolut hilfreich für einzelne Menschen ebenso wie für Unternehmen. Diese Klarheit ist eine wichtige Weichenstellung für langfristigen Erfolg, Zufriedenheit und Balance. Die gerade so populäre Idee vom Purpose als dem einen „wahren“ Urgrund allen unternehmerischen Handelns ist jedoch viel zu grob geschnitzt. In dem mit ihr faktisch verbundenen Anspruch auf Essenzialität und Universalität ist ihr Scheitern vorprogrammiert. Das hätte dann zwar für die Zunft der Managementvordenker und -berater den Vorteil, dass man alsbald mit dem nächsten Heilskonzept um die Ecke kommen könnte. Der Preis dafür wäre allerdings, dass auch der Sinnbegriff wie schon so viele andere einseitig überdrehte Managementkonzepte zuvor, bei sehr vielen Führungskräften und Mitarbeitenden vor allem eines auslöst: Kopfschütteln und Abwinken. Dann wäre mal wieder das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Und das fände ich gerade in Bezug auf ein so wichtiges Thema wie „Sinn“ mehr als schade. Das systematische Bewusstmachen und Nutzen dessen, wozu die Entscheidungen und Aktivitäten in einem Unternehmen eigentlich dienen, braucht also neben Enthusiasmus und Akzentuierung auch kühle Abwägung und kontextbezogene Differenzierung. Es befindet sich damit in bester Gesellschaft zu allen anderen Konzepten im Management.