Natürlich gibt es sie nicht – die 11 Gebote des Coachings. Wenn Coaching etwas ist, dann immer wieder anders, höchst situationsbezogen, individuell, variabel, in kein Schema zu pressen. Andererseits muss man Gebote aber auch nicht als starres Schema auffassen, sondern man kann sie als Richtlinien und Leitplanken für gutes Handeln verstehen. Und ginge es nun darum, Richtlinien und Leitplanken zu formulieren, die man als professioneller Coach im Sinne eines fruchtbaren und nachhaltig erfolgreichen Coachings auf jeden Fall im Auge behalten sollt, dann würden das nach meiner Erfahrung die folgenden Punkte sein:
1. Gebot: Arbeite am Anliegen!
Ohne Anliegen kein Coaching. Nur wenn der Gecoachte – neuhochdeutsch Coachee – einen für ihn relevanten Bedarf hat, für den er selbst etwas tun kann, der also sein eigenes Handeln betrifft und für den er das Coaching nutzen möchte, kann man coachen. Auf Menschen ohne Anliegen kann man einreden (manchmal wie auf einen lahmen Gaul), man kann ihnen auch nette Geschichten erzählen, sie loben oder mehr oder weniger subtil mit Kritik überziehen, coachen aber kann man sie nicht.
Im Allgemeinen muss ein Anliegen im Coaching erst identifiziert, geklärt und konkretisiert werden, und es muss zu einer handlungsleitenden Vereinbarung zwischen Coach und Coachee – neudeutsch „Contracting“ – geführt werden. Ein solches Contracting muss man nicht aufschreiben, aber man muss es haben – als Basis und als Erfolgsmaßstab des Coachings. Manchmal erfordert dies größeren Einsatz, vor allem dann, wenn der Coachee sehr ambivalent in Bezug auf seine Wünsche, Vorstellungen und Bedarfe ist, oder er sich zum Coaching geschickt fühlt und daher zunächst (und vielleicht auch überhaupt) gar kein eigenes Anliegen für sich sieht, so dass sich die Frage stellt, in welcher Hinsicht bzw. ob überhaupt der Coachee ein eigenes klares Anliegen für das Coaching entwickelt.
Anliegen können sich mit der Zeit ändern, manchmal nur leicht, manchmal radikal. Dies kann schon während ein- und desselben Gesprächs passieren, erst recht aber, wenn man nach einiger Zeit miteinander wieder anknüpft. Daher muss auch die Verständigung über Ziele, Wege und Rahmenbedingungen der gemeinsamen Arbeit immer wieder überprüft, nachjustiert und für die jeweilige Situation spezifiziert werden. Nur dann kann die Arbeit im Coaching das leisten, was sich der Coachee normalerweise von ihr verspricht: nämlich einen relevanten Mehrwert generieren.
2. Gebot: Achte auf verschiedene Auftraggeber!
Nicht nur der Coachee will etwas oder will etwas nicht. Auch andere relevante Personen aus dem Umfeld des Coachees haben Erwartungen an das Coaching: Partner, andere Familienmitglieder, Chefs, Kollegen, Mitarbeiter etc. Da die Reaktionsweisen dieser Personen deutlichen Einfluss auf die Situation und das Wohlbefinden des Coachees nehmen können, ist es wichtig, dass sich Coach und Coachee mit diesen Erwartungen und den Folgen möglicher Erwartungserfüllungen oder Erwartungsenttäuschungen aktiv auseinandersetzen.
Noch entscheidender wird dies dann, wenn es sich bei den relevanten Dritten um offizielle Mitauftraggeber für das Coaching handelt, z.B. wenn eine Organisation Coachingprozesse in bestimmten Situationen mit definierten Zielsetzungen in Auftrag gibt, oder wenn ein Chef maßgeblicher (Mit-)Initiator des Coachings eines Mitarbeiters ist. Hier geht es in der Regel darum, gleichzeitig verschiedene Erwartungen zu erfüllen, was es erforderlich macht, sich einerseits der Übereinstimmungen und Differenzen der jeweiligen Erwartungen bewusst zu werden und andererseits mit allen offiziellen Auftraggebern zu sauberen Vereinbarungen zu kommen, also einem Contracting in Bezug darauf, wie mit den übereinstimmenden und wie mit den nicht übereinstimmenden Erwartungen am besten umgegangen werden sollte, wo z.B. eine Integration möglich ist, wo es eine Priorisierung oder weitere Klärungen braucht und wo es Kompromisse einzugehen gilt.
3. Gebot: Wertschätze Deinen Coachee!
Nur wenn der Coach seinen Coachee als Person, in seiner jeweiligen Rolle und mit den ihm eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Ideen und Bedürfnissen wertschätzt, kann die Art von Vertrauen, Offenheit und Beziehungsqualität entstehen, die man für ein substanziell und nachhaltig wirksames Coaching braucht.
Neben der elementaren Bedeutung für die Beziehung zwischen Coach und Coachee gibt es jedoch noch einen weiteren Grund, weswegen eine ausgeprägte Wertschätzung des Coachs dem Coachee gegenüber absolut wesentlich ist. All die Themen, um die es normalerweise in einem Coaching geht – schwierige Situationen und Krisen meistern, Klärungen für komplexe Entscheidungen und Weichenstellungen herbeiführen, neue Handlungsweisen anstelle bisheriger Gewohnheiten etablieren, Blockaden lösen, persönliche Potenziale freisetzen etc. – haben die Eigenschaft, dass man für ihre Bewältigung in besonderer Weise eigene Fähigkeiten und Stärken sowie zumeist auch Unterstützung aus den jeweiligen beruflichen und/oder privaten Umfeldern mobilisieren muss. Wirksames und nachhaltiges Coaching muss daher immer ressourcenorientiert, also fokussiert auf die persönlichen und in den jeweiligen Umfeldern liegenden Kraftquellen des Coachees sein. Die wahrnehmungs- und handlungsleitende Maxime ist: der Coachee verfügt über alle möglichen höchst wirksamen Fähigkeiten, Stärken und Potenziale.
Um all diese hilfreichen Ressourcen in den Blick zu rücken, ist der Coach in besonderer Weise gefragt; denn Menschen sehen für sich oft gar nicht, welche wichtigen Stärken und Möglichkeiten sie bereits zur Verfügung haben. Nicht selten werden besondere eigene Leistungen oder Fähigkeiten für ganz selbstverständlich gehalten; oft werden eigene Reaktions- und Verhaltensweisen als kritisch oder belastend wahrgenommen, obwohl sie gleichzeitig auch eine wichtige positive Funktion erfüllen, z.B. wichtige eigene Bedürfnisse kund zu tun oder für Balancen zu sorgen; ebenso werden wichtige Unterstützungspotenziale im eigenen Umfeld oft nicht hinreichend wahrgenommen und genutzt. Für all dies braucht es eine fokussiert ressourcenorientierte und ressourcenaktivierende Haltung des Coachs. Umfassende Wertschätzung ist also weit entfernt davon so etwas wie eine nette Stimmungsfacette in einer Coaching-Arbeitsbeziehung zu sein das Fundament für den Coachingerfolg überhaupt.
4. Gebot: Begegne Deinem Coachee auf Augenhöhe!
Wirksames Coachen ist weder Verordnen noch Andienen. Verordnen – wie subtil auch immer es geschieht – kommt ‚von oben‘ und wird spätestens nach einer Weile beim Coachee Widerstand auslösen, abgesehen davon, dass Verordnungen für denjenigen, an den sie gehen sollen, oft auch nicht passen. Umgekehrt ist es aber auch wenig fruchtbar, wenn der Coach seinem Coachee gegenüber quasi aus einer sich unterordnenden Position heraus agiert. Das Risiko ist hier, dass Wahrnehmungen und Feedbackpunkte, vor allem mit potenziell kritischen Aspekten, aber auch Hypothesen, Vorschläge und erkundende Nachfragen zu vorsichtig, zu zurückhaltend oder zum Teil gar nicht angesprochen werden. Sowohl in der Über- wie in der Unterordnung verliert der Coach dramatisch an Wirkungskraft.
Fruchtbares Coaching ist ein dialogischer und partnerschaftlicher Prozess. Ein solcher Prozess braucht zumindest näherungsweise eine gleiche Augenhöhe, damit die erforderliche Offenheit entsteht, persönliche, sensible und kritische Aspekte vertrauensvoll und klar thematisiert werden können und die Verantwortung für das Handeln des Coachees immer da bleibt, wo sie hingehört, nämlich beim Coachee selbst, unabhängig davon, wie fruchtbar und anregend die methodischen und inhaltlichen Impulse des Coachs sind.
Das Realisieren einer gleichen Augenhöhe zwischen Coach und Coachee ist in manchen Situationen besonders gefährdet. Dazu gehören typischerweise Situationen, in denen Chefs ihre Mitarbeiter coachen; dazu gehören aber auch Situationen, in denen der Coach denkt, dass er dem Coachee an persönlichem Erfolg, Standing und Erfahrung grundsätzlich unterlegen ist. In solchen und ähnlichen Fällen muss der Coach prüfen, was er für in Bezug auf seine inneren Haltungen und seine Kontaktgestaltung dem Coachee gegenüber verändern kann, um eine gleiche Augenhöhe zu erreichen bzw. ob er in diesem Fall wirklich der ideale Coach für seinen Gesprächspartner ist.
5. Gebot: Mach anregende Angebote!
Der Coach unterstützt den Coachee bezogen auf dessen jeweiliges Anliegen darin, seine Ziele – Klärung, Entscheidungsfindung, bessere Balancierung, Etablierung neuer Handlungsweisen, Potentialentfaltung etc. – möglichst gut und innerhalb seines Handlungskontexts stimmig zu erreichen. Coaching ist, wie Manche sagen, Hilfe zur Selbsthilfe. Man kann auch sagen: eine Art von Beratung. Nicht die Beratung, die Experten, wie Zahnärzte, Steuerberater, Energiefachleute vornehmen, sondern eine Beratung, bei der der Berater dem Beratenden als Sparrings- und Reflexionspartner, als Nachfragender, Zuhörer, Feedback- und Ideengeber zur Verfügung steht, um den zu Beratenden darin zu unterstützen, selbst das für ihn Passende zu entwickeln, zu verankern und wenn nötig weiter zu modifizieren.
Als Berater ist der Coach Dienstleister, und wie jeder Dienstleister kann und sollte er Angebote machen. Diese Angebote können sich auf unterschiedlichste Dinge beziehen: der Coach kann Methoden anbieten, eigene Wahrnehmungen, Hypothesen und Interpretationen; er kann Ideen und Handlungsempfehlungen, Erfahrungswerte, Experimente, Informationen über Zusammenhänge, Literaturhinweise, Denkanstöße anbieten etc. Wenn es gut läuft, sind zumindest einige der Angebote des Coaches für den Coachee anregend und hilfreich: sie eröffnen neue Perspektiven, geben Handlungsimpulse, ermöglichen besseres Verstehen, geben Orientierung, Sicherheit oder Hilfen für die Klärung und Erreichung von Zielen.
Egal, wie fruchtbar, handlungswirksam und nachhaltig die Angebote des Coachs nun aber sind – eines sind und bleiben sie immer: nämlich Angebote. Der Coach kann als Coach nichts anderes als Angebote machen, und er sollte sich dessen bewusst sein. Der Coach kann nichts erzwingen und nichts anordnen, er kann den Coachee nirgendwo hinbewegen, wo dieser nicht hinbewegt werden möchte; er kann als Coach auch nicht die Probleme seines Coachees lösen und für diesen quasi die Arbeit übernehmen. Und wenn er das dennoch versucht, z.B. weil er denkt, das Leben des Coachees wäre doch dann viel leichter und besser, so fällt der Coach eindeutig aus seiner Rolle und wird mit größter Wahrscheinlichkeit etwas tun, was die gewünschte Wirkung verfehlt.
Ein guter Coach macht dem Coachee anregende und hilfreiche Angebote, und er tut dies – als fairer Dienstleister und Dialogpartner auf Augenhöhe – transparent und für den Coachee nachvollziehbar. Ob ein Angebot tatsächlich anregend und hilfreich ist, entscheidet dabei zuletzt allein der Coachee mit seiner Reaktion auf dieses Angebot – seiner verbalen und oft auch seiner non-verbalen oder im Handeln gezeigten Reaktion. Wenn der Coachee ein Angebot des Coaches also nicht nehmen möchte, auch wenn der Coach vielleicht mit Engagement und Kreativität versucht hat, es ihm nahe zu bringen, so hat der Coachee alles Recht dieser Welt dazu. Er kann und darf Angebote des Coaches ablehnen – einschließlich des ganz grundsätzlichen Angebots, dass überhaupt ein Coaching stattfindet.
6. Gebot: Stell Fragen!
Zum professionellen Vorgehen eines Coachs gehört vieles: Zuhören, Hypothesen bilden, Feedback geben, eigene Erfahrungen, Ideen, Empfehlungen anbieten, Metaphern und Symbole nutzen, Denk- und Handlungsexperimente anregen, Simulationen und Übungen durchführen, Auswertungen und Schlussfolgerungen anleiten, Vorgehensplanungen initiieren etc. Vor allem aber muss ein professioneller Coach eines tun, nämlich Fragen stellen. Er muss fragen, um die Situation des Coachees, seine Art zu denken, zu fühlen, zu handeln besser zu verstehen. Er muss fragen, um den Coachee zum Nachdenken anzuregen über sein Handeln, seine Handlungsmuster, seine Annahmen, seine inneren Einstellungen und Gefühle, seine Wünsche, Vorstellungen, Pläne etc. Er muss fragen, um dem Coachee neue Perspektiven, Ideen und Handlungsoptionen zu eröffnen. Er muss fragen, um die Dinge, da wo nötig, zu konkretisieren und greifbarer zu machen. Und er muss fragen, um die Ressourcen des Coachees, die Fähigkeiten, Stärken und Potenziale, über die er selbst verfügt und die in seinen beruflichen und persönlichen Umfeldern vorhanden sind, für den Coachee klar wahrnehmbar und bestmöglich nutzbar zu machen.
Fragen sind der Schlüssel zur Welt und sie sind insbesondere der Schlüssel zu einem erfolgreichen Coaching. Gelegentlich wird der Coach dabei – ähnlich wie ein Lehrer – Fragen stellen, um den Coachee zu einem bestimmten Punkt hin zu lenken. In aller Regel sind die Fragen des Coachs aber echte Fragen. Sie stellen sich dem Coach genauso wie er sie dem Coachee stellt. Sie dienen dem gemeinsamen Erkunden, Beleuchten, Fokussieren, Überprüfen und Aktivieren. Sie sind wie der Motor für die gemeinsame Arbeit von Coach und Coachee. Ohne intensives Fragen gibt es keine zielgerichtete Bewegung und kein nachhaltiges Vorwärtskommen im Coaching.
7. Gebot: Denk konstruktivistisch!
Konstruktivismus meint, dass jede Art von Wahrnehmung der Welt immer schon eine Art von Interpretation oder eben Konstruktion ist. Eine neutrale, gänzlich objektive Wahrnehmung ist – jedenfalls für menschliche Wesen – schlechterdings unmöglich. Jedes Wahrnehmen, Vorstellen, Denken ist immer schon mit interpretativen Elementen wie Annahmen, Erwartungen, Typisierungen, Generalisierungen etc. verbunden. So unabweislich wie der Konstruktivismus mittlerweile durch zahllose Befunde aus faktisch allen Wissenschaften, aber auch schon aus der alltäglichen Erfahrung heraus ist, so schwer kann es sein, in konkreten Situationen konsequent konstruktivistisch zu handeln.
Menschen sind mit unterschiedlichsten Vorstellungen in Bezug darauf, wie sie selbst, ihr Umfeld und die Welt an sich sind bzw. zu sein haben, identifiziert. Je stärker solche Identifikationen werden, umso mehr werden sie als selbstverständlich wahr, also als ein Fall von „so ist es auf jeden Fall“ angesehen. Hieraus können beträchtliche Denk- und Handlungs-Barrieren entstehen, auf die man im Coaching trifft, z.B. wenn Menschen denken „ich habe ja doch keine Chance egal, was ich tue“ oder „ich muss immer stark / perfekt / beliebt / gut angesehen sein“ oder „alle Projekte sind dazu verurteilt, völlig aus dem Ruder zu laufen“ etc. Die Aufgabe des Coachs ist es in solchen Situationen, andere Betrachtungsweisen auf das Geschehen zu aktivieren - oft Betrachtungsweisen, die beim Coachee bereits vorhanden sind, aber durch die bei ihm vorherrschende Art, die Dinge zu sehen, von ihm kaum oder nur verzerrt wahrgenommen werden. Manchmal bringt der Coach aber auch selbst andere Betrachtungsweisen ins Spiel.
Das Aktivieren relevanter und potenziell hilfreicher Perspektiven ist im Coaching immer wieder nötig; seien es Perspektiven relevanter Dritter, wie Partner, Kinder, Chefs, Kollegen, Kunden oder quasi im inneren Team des Coachees vorhandene, aber vielleicht (gegenwärtig) eher unscheinbare Perspektiven. Immer wieder kommt es darauf an, relevante andere Perspektiven wahrzunehmen und für das eigene Handeln sinnvoll zu integrieren. Dabei geht es nicht um die Frage „welche Perspektive ist nun richtig?“ oder gar „wer hat recht, wer unrecht?“, sondern es geht um die Folgen, die aus einer bestimmten Betrachtungs- und Handlungsweise resultieren und um die Frage, wie möglichst wünschenswerte Handlungsfolgen entstehen können.
Besonders herausgefordert ist der Coach dann, wenn er selbst in Bezug auf Dinge, die der Coachee tut oder tun könnte, denkt „so muss es auf jeden Fall sein“ oder „so darf es gar nicht sein.“ Hier melden sich in aller Regel Werte und Vorstellungen, mit denen der Coach selbst zutiefst identifiziert ist. Die Herausforderung besteht dann darin, dass der Coach, jedenfalls, wenn er weiterhin als Coach hilfreich für sein Gegenüber tätig sein möchte, bei sich selbst andere Perspektiven auf das Geschehen aktiviert - mit anderen Worten: dass er auch dann konstruktivistisch auf Kurs bleibt, wenn es ihm gerade persönlich schwer fällt, weil er denkt „meine Sicht ist auf jeden Fall die richtige.“
8. Gebot: Geh mit der Energie!
Wo Energie ist, ist Bedeutung. Die gilt, wenn sich Energie zeigt als Interesse, Gespanntheit, Aufmerksamkeit, Erwartung, Freude, Lachen oder lustvolle Leichtigkeit. Das gilt aber auch, wenn sich Energie ganz anders zeigt, etwa als Zweifel, Sorge, Angst, Reibung, Spannung oder entschiedener Widerspruch. Auf die Energie zu achten, gehört zur Grundnavigation für jeden professionellen Coach. Bei welchen Themen, in welchen Zusammenhängen, anlässlich welcher Situationen entsteht spürbare Energie beim Coachee? Wie drückt sich diese Energie aus, welches Verhalten und welche Folgen resultieren daraus? Und wie lässt sich die wahrgenommene Energie für die Themen und Ziele des Coachings bestmöglich nutzen?
Gleichzeitig geht es aber auch um die Energie beim Coach selbst. Wie reagiert er auf das, was der Coachee gerade äußert und was im Gespräch passiert? Der Coach ist immer auch eine Art Resonanzboden für das, was der Coachee im Gespräch sagt, tut und ausdrückt. Wenn der Coach zum Beispiel eine Gesprächssituation oder sogar die ganze bisherige Begegnung mit dem Coachee als mühsam, anstrengend, langweilig oder ‚nervig‘ erlebt, sagt das nie nur etwas über die aktuelle Befindlichkeit des Coaches oder die Persönlichkeit des Coachees aus, sondern liefert immer auch Hinweise über die Dynamik des Themas, die Art, wie der Coachee damit umgeht, Reaktionen und Wechselwirkungen, die er in seinem Umfeld dadurch hervorruft etc. Dies gilt es, und zwar im Sinne der Transparenz gemeinsam zu reflektieren und für die Ziele des Coachings zu nutzen.
Egal, wie es gerade um die Energie im Coaching bestellt ist, sie ist immer ein wesentlicher Indikator für das, was passiert und was zwischen Coach und Coachee reflektiert werden sollte. Auch wenn Coach oder Coachee im Augenblick gerade (fast) gar keine Energie spüren und den Eindruck haben, das Gespräch dümpele nur so dahin, ist dies aufschlussreich: Geht es darum, einen anderen Zugang zu dem angesprochenen Thema zu finden? Ist eigentlich ein ganz anderes Thema als das gerade fokussierte relevant? Steht etwas im Wege, und wenn ja, was ist es und wie lässt es sich ausräumen?
Energie, wie immer es im Moment um sie bestellt ist, gilt es für den Coach grundsätzlich zu erkennen und zu nutzen. Ziel ist es dabei, eine kraftvolle und nachhaltig wirksame Energie gemeinsam zu entfalten für die Arbeit an den Themen des Coachings. Je mehr dies gelingt, umso mehr kommt es zu einer Art von Flow, in dem klares, zielgerichtetes und als lustvoll erlebtes Handeln sich selbst verstärkt und hohe Effektivität und Kreativität entsteht.
9. Gebot: Stärke die Beobachterebene!
Um komplexe, verwirrende, an Grenzen führende oder konfliktreiche Situationen verstehen und produktiv verändern zu können, braucht es immer auch den reflektierenden Blick quasi aus der Vogelperspektive auf das Geschehen: eine Beobachter- oder Metaperspektive, bei der man gleichsam von außen auf das Geschehen draufschaut statt im Geschehen selbst drinzustecken. Tut man dies nicht, verharrt man mit großer Wahrscheinlichkeit in eingefahrenen Verhaltensweisen mit all ihren gewohnten positiven wie negativen Folgen.
Wer sich entschieden hat, für bestimmte Fragen und Themen ein Coaching wahrzunehmen, hat sich damit faktisch auch bereits dafür entschieden, eine Metaperspektive einzunehmen, da Coaching im Kern nichts gar anderes ist als ein gemeinsamer und durch die jeweiligen Ziele geleiteter reflexiver Dialog. Coaching ist schon vom Grundsatz her ein systematisches Einnehmen einer Beobachter- oder Metaebene. Und diese Ebene hat nun der Coach beim Coachee bestmöglich zu aktivieren, damit der Coachee sie im Sinne seiner Ziele selbst jederzeit einnehmen und nutzen kann.
Was hat der Coachee davon? Zum einen hat der Coachee die Möglichkeit, durch Metareflexion besser zu verstehen: Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen, Zusammenhänge eigener Annahmen und Handlungsfolgen, Wechselwirkungen, Handlungsmuster in als stressreich erlebten Situationen und die eigene Rolle darin etc. Das bessere Verstehen eröffnet dem Coachee zugleich aber auch wichtige Handlungsmöglichkeiten. Indem Zusammenhänge, Wirkmechanismen, Wechselwirkungen und die eigene Rolle bei alledem deutlicher werden, zeigen sich immer auch Hebel, die man für gewünschte Effekte und Veränderungen nutzen kann. Durch die geschärfte Wahrnehmung kann der Coachee in kritischen Situationen gleichzeitig auch früher reagieren. Er kann schneller erkennen, in welcher Art von Dynamik er sich gerade befindet und kann damit bei Bedarf auch schneller gegensteuern und nachbalancieren.
Die Stärkung des inneren Beobachters bedeutet für den Coachee also die Stärkung seiner Fähigkeit zu zielorientierter Selbststeuerung. Je besser dies der Coachee in Bezug auf für ihn besonders herausfordernde Situationen durch das Coaching lernt, umso effektiver ist er in der Lage, auch unter turbulenten Bedingungen auf Kurs zu bleiben. Der Coachee weiß zum Beispiel, dass er in bestimmten Situationen immer wieder das Gefühl hat, jetzt sofort handeln zu müssen, auch wenn er dies Handeln im Nahhinein eher bereut, oder dass er Gefühle von starker Angst, Frustration, Zorn oder Wut erlebt und dann in einen Sog von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen hineingerät, die er selbst alles andere als gut findet. Durch die Stärkung seines inneren Beobachters kann er nun mehr und mehr lernen, solche Impulse und Gefühle zwar zu registrieren, sich aber nicht mit ihnen zu identifizieren, sondern die Aufmerksamkeit immer wieder auf andere gewünschte Aspekte und Handlungsoptionen zu lenken und so auf Kurs zu bleiben.
Egal, was das Coachingthema im Einzelnen ist, die systematische Aktivierung der inneren Beobachterebene gehört zum roten Faden professionellen Coachings. Und der Coach selbst ist mit dem, was er tut, für den Coachee ein ständiges Modell dafür, wie man zwischen der Ebene des jeweiligen Geschehens und der reflektierenden Beobachterebene schnell und nutzbringend hin- und herwechseln kann.
10. Gebot: Sorge für verbindliches Handeln!
Professionelles Coaching ist immer zielorientiert. Um Ziele effektiv zu erreichen, braucht es verbindliches Handeln. Dies gilt besonders unter herausfordernden, schwierigen, ambivalenten oder konflikthaften Bedingungen, die die Zielerreichung deutlich anspruchsvoller machen und die den Normalfall in Coachingsituationen darstellen. (Wenn alles nur ‚Buisness as usual‘ wäre, bräuchte man kein Coaching.)
Das Thema Verbindlichkeit durchzieht das gesamte Coaching. Es beginnt schon ganz profan beim Einhalten von vereinbarten Terminen und dem Sorgen für die jeweils nötige Kontinuität der Gespräche, es geht über die Verbindlichkeit, mit der Coach und Coachee einander begegnen, Zusagen und Spielregeln einhalten, und es umfasst natürlich auch geplante und miteinander abgestimmte Vorhaben, Umsetzungen, Experimente und die darauf bezogene gemeinsame Reflexion, Auswertung und Nachsteuerung.
All dies hat der Coach zu fördern und gegebenenfalls auch in Erinnerung zu bringen oder zu fordern. Und natürlich hat der Coach in seinem eigenen Handeln eine klare und zugleich wertschätzende Verbindlichkeit zu praktizieren – immer auf der Basis des Auftrags für das Coaching und des Einverständnisses des Coachees mit der Arbeit des Coachs.
Hat der Coach den Eindruck, dass die Verbindlichkeit in Bezug auf die gemeinsame Arbeit beim Coachee bröckelt oder sich noch gar nicht richtig entwickelt hat, etwa wenn der Coachee sich nur noch eingeschränkt an bestimmte Spielregeln oder miteinander abgestimmte Umsetzungsvorhaben hält, dann darf und sollte der Coach dies natürlich thematisieren, er darf und sollte schauen, was der Coachee möglicherweise noch braucht (an Informationen, Sicherheit, Vertrauen, alternativen Optionen etc.), um mehr Verbindlichkeit entwickeln zu können, er darf und sollte mit dem Coachee über vermutliche Folgen von dessen Handeln sprechen, er darf und sollte auch seine eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Hypothesen, Ideen, Empfehlungen etc. ins Spiel bringen, und er darf natürlich auch, wenn sich die erforderliche Verbindlichkeit gar nicht hinreichend einstellt, die Option eines Coachingabbruchs ansprechen und diese Option gegebenenfalls – und sinnvollerweise im Einverständnis mit dem Coachee – auch realisieren; selbst unter solchen Umständen wird der Coach jedoch nicht zu demjenigen, der dem Coachee ‚den Marsch bläßt‘ oder ihm sagt, ‚wo es langgeht‘.
Verbindlichkeit im Coaching ist essenziell, da ohne sie nichts geht. Gleichzeitig ist sie aber ein hochgradig abhängiger Faktor. Sie ist grundsätzlich angewiesen auf den Konsens zwischen Coach und Coachee in Bezug auf die Ziele, die Ernsthaftigkeit, die Vorgehensweisen und die Rollen und Verantwortlichkeiten in der gemeinsamen Arbeit. Man kann auch sagen: Verbindlichkeit im Coaching ist grundsätzlich immer Contracting gebunden.
11. Gebot: Verbinde Engagement und Distanz!
Der Coach braucht starkes Engagement: für die Sache seines Coachees, für die Themen und Ziele des Coachings, für den gemeinsam Arbeits-, Reflexions- und Entwicklungsprozess. Starkes Engagement bedeutet immer auch Nähe, Anteilnehmen, Mitempfinden, Involviertsein und Identifiziertsein. Gleichzeitig braucht der Coach aber auch Distanz zum Geschehen. Er braucht Distanz, um für sich und zusammen mit dem Coachee eine hilfreiche Beobachterperspektive einnehmen zu können, um besser zu verstehen, Muster und Zusammenhänge zu erkennen und neue Perspektiven und Ansatzpunkte zu entdecken. Er braucht Distanz aber auch, um sich nicht einseitig mit dem Coachee, bestimmten Strebungen im Coachee oder in dessen Umfeld zu identifizieren und dadurch seine Wirksamkeit als unparteiischer Sparringspartner zu verlieren. Schließlich braucht der Coach auch deshalb Distanz, um für sich selbst und sein eigenes Wohlbefinden zu sorgen.
Die Fähigkeit zum fließenden, situativ angepassten Wechsel von Engagement und Distanz gehört zu den Grunderfolgsfaktoren professionellen Coachings. Sie ist wesentlich für die Effektivität und Kreativität des Coachs; sie ist wesentlich für seinen persönlichen Energiehaushalt, und sie ist wesentlich dafür, dass der Coach für den Coachee ein hilfreiches Modell bieten kann, damit dieser für seine eigenen Themen ein immer besseres Wechselspiel von Engagement und Distanz erlernen und im Alltag umsetzen kann.