19. Februar 2019

Weg von den Kennzahlen, hin zum Menschen. Die Senkung der Krankheitsrate als willkommenen Nebeneffekt erreichen

Immer wieder höre ich von meinen Kunden, dass gute, durchdachte und auch gut organisierte Angebote des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) keinen messbaren Effekt auf die Gesundheitsrate im Unternehmen haben. Das stellt alle Beteiligten vor die Frage: was sollen wir denn noch alles tun? Klar ist, dass ein Mehr an Maßnahmen nicht automatisch ein Weniger an Krankheitsrate bedeutet und es vielmehr darum geht, mit welcher zugrundeliegenden Haltung und in welcher Umgebung, also (Unternehmens-) Kultur die Maßnahmen angeboten, durchgeführt und eben auch angenommen werden. Dies kann dazu führen, dass an erster Stelle nicht mehr die „Gesundheit“ steht, sondern vielmehr das Thema „Der Mensch“ und damit „Wie gehen wir (alle!) miteinander um?“.

Ein Blick in den Alltag der Menschen in der Führungsetage eines Industriebetriebes zeigt exemplarisch die hohen Anforderungen: mehr als ambitionierte Zielgrößen, hoher (Zeit-)Druck in der Produktion, zahlreiche Aktionen und Projekte, die alle gleichzeitig jongliert werden müssen, immer wieder längere Ausfälle von Mitarbeiter/innen wegen Krankheit und Werksleiter, die auch am Wochenende von ihrer Zentrale bzw. von ihren Vorgesetzten mit Mails befeuert werden. Dabei geben die einzelnen Personen ihr Bestes, reflektieren in Coachings und Seminaren ihr Handeln und ihren Führungsstil, ergreifen Maßnahmen zu einer gesunden Lebensführung - und doch fühlen sich viele fremdbestimmt und getrieben von Terminen, Projekten, Aktionen, von zusätzlichen Maßnahmen, von ungeplanten Ereignissen. Gefühlt bräuchte es im Alltag oft 4 Beine, 8 Hände und 2 Köpfe. (Fast) Niemand will das, aber häufig ist es genau so. Es stellt sich die Frage: Wer steuert hier eigentlich – und wieso haben wir so oft das Gefühl gesteuert zu werden? Bilder von Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ tauchen im Geiste auf, nur, dass heute nicht einfach mehr der Fabrikdirektor dafür verantwortlich gemacht werden kann. Im Gegenteil, es geht ihm heute selbst wie dem „Arbeiter Charlie“.

Es drängt sich die Frage auf: „Wer ist eigentlich für wen da?“ Der Mensch für die Wirtschaft oder die Wirtschaft für den Menschen? Nehmen wir letzteres an, ergibt sich ein anderer Ansatzpunkt für Unternehmen: nun werden die Prozesse, die Produktionsabläufe, das Miteinander zum Mittel und der Mensch zum Ziel oder Zweck des Unternehmens. Dann lautet die Frage: „Wie gestalten wir die Prozesse, die Produktionsabläufe und das Miteinander so, dass die darin arbeitenden Menschen sich wohlfühlen, sich als Menschen gewertschätzt fühlen, deshalb ihr Potential entfalten, über sich hinauswachsen, Sinn empfinden und sich identifizieren können - immer unter Berücksichtigung des Faktums, dass Wirtschaftlichkeit die Basis unserer Existenz ist – aber eben nicht der Sinn unseres Handelns.

Wenn wir den Menschen statt der Prozesse in den Fokus stellen, müssen zudem alle einbezogen werden: die Kunden und die Lieferanten, die Mitarbeiter/innen und das Management.

Eine solche Kulturveränderung passiert entsprechend nur, wenn der oberste Führungskreis bei sich beginnt und sich in einer gemeinsamen Runde folgende oder ähnliche Fragen stellt:

  • Wie konsequent habe ich selbst meine Gesundheit gefördert?
  • Was hat meine Gesundheit gefördert und was hat sie beeinträchtigt während der Arbeit?
  • Wie gehen wir untereinander mit dem Thema Gesundheit um? Was leben wir im Führungskreis unseren Mitarbeiter/innen vor?
  • Was heißt Professionalität für uns? Meinen wir, dass Professionalität heißt, möglichst sachlich und analytisch zu bleiben oder heißt Professionalität auch, lebendig zu sein, Emotionen zu zeigen, Spaß zu haben und verrückte Ideen fließen zu lassen, ohne Angst zu haben, schräg angeschaut zu werden?  (Kleines Experiment für obere Führungskräfte: Fragen Sie einmal Ihre Frau/Ihren Mann, ob sie noch genauso „lebendig“ sind wie zu Studienzeiten....)
  • Welche Grundannahmen haben wir zum Thema Gesundheit: Leisten wir uns „gesunde Führung“, „gesunde Kultur“ und BGM-Maßnahmen oder sind diese Voraussetzung für uns für ein langfristig erfolgreiches Wirtschaften?
  • Was bedeuten die Ergebnisse der oben genannten Fragen für unsere Zusammenarbeit?

Meine Erfahrung ist, dass sich der oberste Führungskreis schwertut, offen miteinander diese Fragen zu beantworten und sich darüber auszutauschen. Dies ist jedoch nötig, wenn eine gesunde Kultur in einem Unternehmen entstehen soll. Wenn wir in den drei Ebenen des Kulturmodells nach E. Schein denken, reicht es nicht aus, auf der obersten, sichtbaren Ebene konkrete BGM-Maßnahmen zu ergreifen. Diese sind wichtig und nötig, eine gesunde Kultur kann sich aber nicht etablieren, wenn die Mitarbeiter/innen bei den Führungskräften wahrnehmen, dass sie keine Pausen machen, ihren regelmäßigen Sport abends immer wieder absagen und am Wochenende Emails schreiben. Im Gegenteil: dies ist ein deutliches Zeichen, dass die Gesundheit nachrangig ist und an erster Stelle unbedingter Einsatz für die Firma erwartet wird. Eine darunterliegende Grundannahme auf der dritten und unteren Kulturebene könnte lauten: „Wer sich zu viel um seine Gesundheit kümmert, bringt nicht genügend Engagement für das Unternehmen.“

Diese vielleicht nicht bewussten Grundannahmen erspüren die Mitarbeiter/innen durch das Verhalten auf der obersten, der sichtbaren Kulturebene und handeln entsprechend – indem auch sie lieber ein paar Pausen ausfallen lassen und auch am Wochenende erreichbar sind.

Eine solche und viele weitere ähnliche, nicht bewusste Grundannahmen im Führungskreis sollten besprochen und reflektiert werden. Inwieweit nutzen sie (und es gibt immer einen Nutzen, sonst gäbe es das Verhalten nicht) und inwieweit schaden sie dem Menschen bzw. dem Unternehmen. Welche Auswirkungen haben diese im Verhalten auf die Führungskräfte und dann entsprechend auf die Mitarbeiter/innen. Wodurch wird Leistung erbracht und wie kann eine hohe Leistungserbringung mit einem gesunden Lebens- und Arbeitsstil einhergehen?

Schafft es der oberste Führungskreis, sich darüber offen und mit wohlwollender Neugier sich selbst und dem eigenen Verhalten gegenüber, auszutauschen, macht dies den Weg frei zum einen für die Wirkung der bereits gut organisierten BGM-Maßnahmen und zum anderen für ein neues gesundes (Selbst-) Führungsverhalten zum Wohle aller. Natürlich kommt auch das nicht von ganz alleine und muss in Workshops und Seminaren zusammen erarbeitet und reflektiert werden, aber die, bildlich gesprochen, unsichtbaren Glaswände, die verhindert haben, dass das, was erarbeitet wurde, Wirkung zeigt, verschwinden nach und nach.

Dies heißt nicht, dass es nicht immer wieder Situationen geben wird, in denen es den Einsatz aller braucht, um diese schwierigen Situationen zu bewältigen. In einer gesunden Kultur wird jedoch über die evtl. entstehenden Dilemmata (z.B. entweder die Gesundheit der Mitarbeiter missachten oder die Produktion mit reduzierter Kapazität fahren) gesprochen, es wird offen thematisiert, dass in diesem Fall kein anderer Weg gesehen wurde, als die Gesundheit an die zweite Stelle zu setzen. Diese Bewusstmachung und Veröffentlichung des Dilemmas führt automatisch zu einem „gesunden“ Druck für die Zukunft bessere, innovative Lösungen zu finden. Und sie fördert den ehrlichen Umgang mit sich selbst und den Mitarbeiter/innen.

Diese spüren sehr wohl, ob sie als Mensch an erste Stelle gesetzt werden und in Notfällen und Notzeiten einen Einsatz bringen müssen, der nicht als gesund bezeichnet werden kann oder ob sie Mittel sind, um das Ziel einer hohen Wirtschaftlichkeit, hoher Effizienz und einer starken Rendite zu erreichen. Dies verlangt von den Führungskräften eine Änderung der Grundannahme: nicht wir leisten es uns, uns um Gesundheit zu kümmern, sondern weil wir den Menschen und seinem Wohlergehen Vorrang geben, ist die Chance hoch, dass auch die Leistung und die Zahlen steigen und die Krankheitsrate sinkt. Es steht also nicht die Senkung der Krankheitsrate im Vordergrund, sondern die Motivation, Menschen nicht für ein Produkt, einen bestimmten Umsatz, für (finanziellen) Erfolg funktionieren zu lassen, sondern ihre begrenzte Zeit auf Erden ernst zu nehmen und sich gemeinsam eine Chance zu erarbeiten, dieses Leben sinnvoll zu gestalten, zu nutzen, es wahrhaft zu leben, und sich gemeinsam eine Chance auch zur seelischen Weiterentwicklung zu geben. Die Senkung der Krankheitsrate ist dann mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erwünschte Folge.

Und zum Schluss noch der Wermutstropfen:

Good ideas are not adopted automatically. They must be driven into practice with courageous patience.

(Hyman Rickover, American Admiral (1900–1986))


 

Über die Autorin

 Pia Gaspard hat einen besonderen Sinn für Menschen und für Zahlen. Sie hört sehr genau zu und bringt die Themen ebenso klar wie wertschätzend auf den Punkt. Dadurch unterstützt sie insbesondere auch in schwierigen und konflikthaften Situationen die Beteiligten konstruktive Ansätze für nachhaltige Lösungen zu finden. 


Individuelle Beratung unter +49 69 9399677-0 oder info@metrionconsulting.de

Auch eine Pflanze muss man nicht motivieren – sich braucht lediglich gute Wachstumsbedingungen.

Pia Gaspard - Partnerin, Metrion Management Consulting