15. Juli 2014

REM – Über den Umgang mit Erwartungen oder wie Realismus wahre Wunder wirken kann

Die psychologische Forschung zeigt uns schon seit langem, dass wir in vielfacher und oft folgenreicher Hinsicht unrealistische Erwartungen pflegen. Einer der Hauptklassiker in dieser Richtung ist, dass wir unsere Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten systematisch überschätzen. Diese in der Fachsprache „overconfidence bias“ genannte Tendenz produziert harmlose Blüten, z.B. wenn Menschen glauben, durch bestimmte Rituale beim Ausfüllen von Lottoscheinen die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen der tatsächlichen Zahlenfolge beeinflussen zu können, aber auch weniger harmlose Blüten, wenn z.B. – wie in der Finanzkrise mehr als deutlich geworden – Finanzjongleure, die längst jede realistische Einschätzung und Kontrolle über ihre Transaktionen verloren haben, denken, sie hätten auf jeden Fall noch alles im Griff.

Ebenso häufig wie folgenreich ist die sogenannte ‚planning fallacy.‘ Menschen, die durch langjährige Ausbildung, Praxis und Erfahrung über ein hohes Wissen in Bezug auf den Verlauf bestimmter Prozesse, z.B. in Projekten, Präsentationsvorbereitungen, Publikationserstellungen etc. haben, planen gleichwohl genau diese Prozesse systematisch unrealistisch, so als wären gerade dieses Mal keine nennenswerten Verzögerungen, Fehler, Probleme, Kostensteigerungen oder Kapazitätsengpässe zu erwarten – obwohl sie bisher jedes Mal die gegenteilige Erfahrung gemacht haben. Besonders unschöne Beispiele dafür sind Super-Projektdebakel, wie etwa der Bau des Berliner Großflughafens oder vor einigen Jahren die Fertigstellung des LKW Mautsystems auf deutschen Autobahnen.

Deutlich weniger dramatisch ist eine andere Erwartungsverzerrungstendenz. Wir neigen dazu positive Ereignisse wie etwa Urlaube, Feiertage oder Partys im Vorfeld viel positiver einzuschätzen als sie dann tatsächlich werden, indem wir das Auftauchen von Problemen, Enttäuschungen oder Konflikten, die uns dabei begegnen, systematisch unterschätzen. Unsere Vorfreude ist also gewissermaßen übertrieben groß.

Natürlich haben diese Erwartungstäuschungen auch eine gute Seite: wir fokussieren uns weniger auf Schwierigkeiten und Risiken (was alles schief gehen könnte), sondern betrachten die Dinge mit einer wohltuenden Portion Optimismus, die uns die Welt heller erscheinen lässt und uns, besonders indem wir unsere eigenen Möglichkeiten systematisch überschätzen, motiviert beherzt weiter zu handeln. Manche Psychologen vertreten die These, dass unsere systematische Selbstüberschätzung und positive Erwartungsverzerrung das wichtigste Mittel ist, um nicht depressiv zu werden.

So weit, so gut. Doch auch wenn wir nun Selbstvertrauen, Optimismus und eine positive Grundeinstellung zur Welt aus guten Gründen pflegen und nicht in dauerhaften Pessimismus oder gar Depressionen verfallen wollen, so hilft uns doch andererseits auch ein realistischer Umgang mit Erwartungen, und zwar aus ganz handfesten Gründen:

  • Je mehr unsere Erwartungen in unrealistische Höhen schnellen, umso eher wird uns die tatsächlich erlebte Wirklichkeit als defizitär erscheinen. Damit aber drohen Stress, Frust und Gefühle von Enttäuschung und Versagen.
  • Je weniger wir in unseren Erwartungen realistischerweise zu erwartende Schwierigkeiten mit berücksichtigen, umso weniger werden wir uns auf das Auftreten solcher Schwierigkeiten sinnvoll vorbereiten. Damit aber drohen die Schwierigkeiten deutlich größer zu werden, als sie eigentlich sein müssten, da wir ihnen gegenüber schlecht gerüstet sind.
  • Je unrealistischer unsere Erwartungen sind, umso eher lassen wir uns auf Dinge ein, von denen wir – jedenfalls in dieser Art und Weise – grundsätzlich besser die ‚Finger lassen sollten,‘ weil das große Risiko besteht, dass wir uns ‚die Finger dabei verbrennen werden‘.

Bei aller positiven Grundeinstellung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt: ein realistisches Erwartungsmanagement (REM) hilft, dass man nicht übertrieben oft auf die Nase fällt und sich unnötigen Stress in erstaunlich vielen Fällen erspart. Vor allem in drei Arten von Situationen lohnt es sich, konsequent dafür zu sorgen, dass man mit möglichst angemessenen Erwartungen unterwegs ist:

1.Sie bekommen ‚von oben‘ unrealistisch hohe Ziele vorgegeben

Wenn Sie von Ihren Vorgesetzten Ziele vorgegeben bekommen, die Sie für schlechterdings unrealisierbar halten, besteht natürlich die erste sinnvolle Strategie darin, zu versuchen, dass die Ziele und/oder Ihre Möglichkeiten (Personal-, Materialressourcen, Fähigkeiten etc.) so modifiziert werden, dass realistisch zumindest näherungsweise erreichbare Ziele entstehen. Nun gibt es aber Organisationen und Personen, bei denen man auch mit noch so viel vernünftiger Argumentation nicht die geringste Chance hat, dass ein gesetztes und bei Lichte betrachtet unrealistisches Ziel in realistischer Weise verändert werden wird. Sie können nun versuchen, das Ziel, das Sie für grundsätzlich unerreichbar erachten, doch irgendwie zu erreichen getreu dem Motto „was muss, das muss.“ Sie befinden sich damit in großer und guter Gesellschaft. Der Vorteil: Sie geben alles und zeigen sich und der Welt, dass Sie niemals aufgeben. Der Nachteil: da, was grundsätzlich unerreichbar ist, grundsätzlich unerreichbar ist, haben Sie – und ebenso auch Ihre Mitarbeiter – auf Dauer eine hohe Chance, auszubrennen, sich zu frustrieren und zynisch zu werden.

Sinnvoll ist daher in einem solchen Fall eine andere Strategie: wenn es schon nicht zusammen mit Ihren Vorgesetzten möglich sein sollte, zu einer realistisch erscheinenden Übereinkunft zu kommen, so geht es darum, dass Sie für sich und faktisch auch für Ihre Mitarbeiter die unrealistischen Ziele so interpretieren, übersetzen, behandeln, dass dabei etwas für Sie – und Ihre Mitarbeiter – grundsätzlich Realistisches und Sinnvolles rauskommt. Vielleicht zahlen Sie dafür den Preis, dass Sie das eine oder andere Gespräch oder auch die eine oder andere Auseinandersetzung mehr führen müssen, als wenn Sie so täten, als wäre nichts. Aber wenn Sie das tun, zahlen Sie auch einen Preis – siehe oben.

2.Sie haben die Tendenz, sich selbst unrealistisch hohe Ziele zu setzen

Vielleicht sind Sie gerade dabei, sich selbst nicht zu erreichende Ziele zu setzen – z.B. aus Ehrgeiz, aus Ungeduld oder einfach – entgegen Ihrem eigenen Erfahrungswissen – aus einer Art Wirklichkeitsverzerrung heraus. Am besten ist natürlich von vornherein dafür zu sorgen, sich auf einen möglichst realistischen Weg zu begeben. Falls Sie nun aber anders gestartet haben, wäre es umso wichtiger die ersten sich verdichtenden Anzeichen dafür, dass Sie gerade mit wenig realistischen Erwartungen unterwegs sind, zu nutzen, um inne zu halten und sich neu zu sortieren: Was sagt Ihnen Ihre Erfahrung in einem solchen Fall? Was sagt Ihnen Ihre Kenntnis von sich selbst, den anderen Beteiligten und den Bedingungen, mit denen Sie es zu tun haben? Welche Herausforderungen, Schwierigkeiten und Widrigkeiten sind zu erwarten? Welche Strategien werden wohl helfen, damit gut umzugehen? Und was heißt all das in Hinblick auf realistische Zielerwartungen?

Reflektieren Sie solche Fragen ernsthaft und konsequent – für sich oder auch im Gespräch mit anderen. Tun Sie aktiv etwas dafür, dass Sie einen realistischeren Erwartungskurs einnehmen, um sich – und vermutlich auch Ihrem Umfeld – Frust, Stress, Versagensgefühle und deutliche Einbußen an Effektivität und Kreativität durch die Folgen von Frust, Stress und Versagensgefühlen zu ersparen.

3.Sie können davon ausgehen, dass eine äußerst hohe Arbeitsdichte und/oder diverse Turbulenzen bzw. Konflikte auf Sie zukommen

Ähnlich wie im Falle unrealistischer eigener oder hierarchisch gegebener Zielsetzungen ist auch in Hinblick darauf, dass eine äußerst hohe Arbeitsdichte bzw. diverse Turbulenzen oder Konflikte zu erwarten sind, die beste und sinnvollste Strategie zu versuchen, schon im Vorfeld die Weichen so zu stellen, dass man erst gar nicht in solche Umstände hineingerät. Dies wird aber nicht immer möglich sein. Manchmal ist klar: es wird nun dazu kommen, dass man einen immensen Workload und/oder größere Turbulenzen bzw. Konflikte zu managen hat. Wenn man in solches Fahrwasser kommt, ist nicht gleichzeitig zu erwarten, dass man wie unter besten Wetterbedingungen segelt. Es wäre wie ein 6er im Lotto, wenn man nun durch und durch entspannt, immer souverän reagierend, ‚gut drauf‘ und ohne jede Stirnfalte und Überstunde alles optimal und tadellos erledigen würde. Ganz ähnliches erwarten allerdings viele Leute von sich und erhöhen damit den Druck auf sich und ihr Umfeld beträchtlich.

Wenn widrige Umstände zu erwarten sind, ist es sinnvoll und intelligent, sich auf widrige Umstände einzustellen: und dazu gehört, dass man sich Strategien überlegt, die einem helfen können, die Widrigkeiten zu meistern; dazu gehört, dass man für einen gesunden Ausgleich sorgt (z.B. durch Bewegung, Sport, Entspannungsübungen und gute Ablenkung – sofern möglich schon während der schwierigen Phase, aber ganz sicher hinterher), und dazu gehört eben auch, dass man sich klar macht, dass man jetzt vermutlich weder so gut drauf sein wird wie im schönsten Urlaub noch so makellos performant wie unter besten Arbeitsbedingungen.

Machen Sie sich bitte klar: Stress und Probleme sind insofern immer subjektiv, als dass sie sich nur in Bezug auf eine bestimmte Messlatte, anders gesagt eine Erwartungsgröße ergeben: ein Problem gibt es nur, wenn gemessen an einem erwarteten Soll ein Istzustand als deutlich defizitär wahrgenommen wird, und Stress gibt es nur, wenn man sich sagt, dass bestimmte Dinge gar nicht gehen, man sie aber trotzdem auf jeden Fall hinzubekommen hat. Die innere, oft verinnerlichte Erwartung macht hier die Musik. Und dort ist auch der Hebel, der geradezu Wunder wirken kann, was nun nicht heißt, dass wir unsere Erwartungen und Messlatten beliebig senken sollten. Natürlich nicht. Aber immer wieder darauf achten, wie realistisch sie sind, das sollten wir schon. Für unsere Effektivität, unsere Kreativität, unsere Gesundheit und unseren langfristigen Erfolg.

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


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Für unsere grundlegenden Fähigkeiten gilt: Wir können das, was wir brauchen, und wir brauchen das, was wir können.

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting