15. April 2016

Neun Prinzipien für eine sich neu ordnende VUCA-Welt

Die Welt scheint aus den Fugen geraten und im Begriff zu sein, sich neu zu ordnen. Die Nachrichten vermitteln uns dieses Bild jeden Tag, und die Folgen sind mittlerweile für jeden von uns auch im Alltag zu spüren. Wie die neu sich herausbildende Ordnung aussehen wird, wer davon längerfristig profitieren und wer vor allem verlieren wird, ist ungewiss. Viele sehen sich freilich schon heute als sichere Verlierer. Viele Menschen sind verängstigt, sie erleben diese Zeit als chaotisch und vor allem als bedrohlich. Nicht wenige von ihnen möchten sich deshalb am liebsten nach außen abschotten. Sie wünschen sich nichts mehr als die Rückkehr zu den vergleichsweise überschaubaren und sicheren Verhältnissen der Vergangenheit. Natürlich hilft es nicht, die Schuld am Verlust des Alt-Vertrauten schlicht den Mächtigen in Politik und Wirtschaft in die Schuhe zu schieben. Und auch der Glaube an einfache Parolen und Lösungsangebote täuscht, sie können – aus etwas Distanz betrachtet - nicht funktionieren.

Ein Kürzel, das den aktuellen Zustand der Welt auf den Punkt bringt, stammt aus den 90er Jahren: VUCA. Die Abkürzung steht für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Mit einer Welt, die so beschrieben werden kann, müssen Gesellschaften, Organisationen, Unternehmen und auch jeder einzelne von uns klar kommen.

Volatility bedeutet, grob übersetzt, Unbeständigkeit, Sprunghaftigkeit und hohe Schwankungsbreite. Ein Beispiel sind die Börsen, aber auch viele Rohstoff- und Gütermärkte. Für Unternehmen bedeutet das u.a. den Verlust von Planungssicherheit. Mittel- und langfristige Strategien verlieren an Relevanz. Eine mögliche Gegenmaßnahme ist das Anlegen von Reserven bzw. der Aufbau von Puffern. Das ist teuer und war gerade im Zusammenhang mit Just-in-time-Strategien völlig aus der Mode gekommen.

Uncertainty bedeutet Unsicherheit: Vieles ist nicht mehr vorhersehbar; Veränderungen kommen scheinbar aus dem Nichts. Ein Beispiel ist der Flüchtlingsstrom, der uns völlig unvorbereitet getroffenen hat. Mit alten Methoden, die auf Extrapolationen basieren, lässt sich höchstens eine gefährliche Scheinsicherheit gewinnen. Natürlich hilft es, möglichst viele Informationen zu sammeln und zu validieren. Aber auch dadurch lässt sich die Zukunft nicht einfangen. Sie lässt sich aber teilweise durch abgestimmtes Handeln der wichtigsten Akteure gestalten.

Complexity bedeutet Komplexität: Das Geschehen wird durch viele, teilweise unbekannte Variablen bestimmt, die auf vielfältige und wechselhafte Weise zusammenwirken. Die Weltmärkte im Zeichen der Globalisierung sind Beispiele dafür. Um mit einer komplexen Wirklichkeit einigermaßen gut zu Recht zu kommen, braucht es sinnvolle Vereinfachungen in Form von Modellen, die auf begründeten Hypothesen basieren. Die Gefahr dabei ist groß, dass man mit der Zeit die Modelle mit der Wirklichkeit verwechselt und sich so erneut in eine gefährliche Scheinsicherheit begibt. Um als Ganzes wirkungsvoll handeln zu können hilft Organisationen eine Differenzierung in teilautonome, sich selbst organisierende Subeinheiten. Dadurch wachsen allerdings die Widersprüche und generell auch die Zentrifugalkräfte in der Organisation.

Ambiguität bedeutet Viel- oder Mehrdeutigkeit. Unterschiedliche und teilweise sich widersprechende Phänomene, Ergebnisse oder Tendenzen zeigen sich zur selben Zeit. Ein Beispiel dafür ist die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Organisationsformen und –prinzipien unter einem Dach. Bestimmte Funktionsbereiche wie z.B. die Produktion benötigen meist weiterhin eine hohe Stabilität, die traditionell durch Regeln gewährleistet wird, deren Einhaltung sorgfältig kontrolliert wird. Andere Funktionsbereiche verlieren durch fixe Regeln die notwendige Handlungsflexibilität. Sie müssen, um erfolgreich zu sein, ständig bestehende Regeln brechen und neue einführen, deren „Halbwertzeit“ ebenfalls überschaubar ist. Die entstehenden Widersprüche und Unschärfen verunsichern und verführen zu einfachen und generalisierenden Antworten, die die alte Eindeutigkeit wieder herstellen sollen, aber gerade deswegen der veränderten Realität nicht mehr gerecht werden. Es gilt stattdessen, Unterschiede und Widersprüche anzuerkennen und auszuhalten.

Aus diesen Gedanken lassen sich einige Prinzipien ableiten, die es leichter machen können, sich in der aktuellen „VUCA Welt“ zurechtzufinden. Sie decken sich teilweise mit den Grundsätzen agiler Methoden, des Design Thinking und des Effectuation Ansatzes. Die nachfolgenden Überlegungen richten sich vor allem an verantwortlich handelnde Führungskräfte. Sie können aber auch übertragen werden auf das Handeln Einzelner, also vom Management ins Selbstmanagement:

  1. Visionen entwickeln, die Antworten geben z.B. auf die Fragen: Wo wollen wir hin? Was ist uns wichtig? Wer wollen wir werden? Eine miteinander entwickelte Vision kann als weitgehend stabiler Leitstern Orientierung geben und vermeiden helfen, dass kurzfristiges, pragmatisches Handeln zu einem beliebigen Zickzack-Kurs in die Zukunft wird. Außerdem kann eine miteinander entwickelte Vision stabilisieren, weil sie die grundsätzliche Richtung festlegt, Sinn vermittelt und Werte beinhaltet, die Identifikation und Bindung auch in einer sehr differenzierten, in sich widersprüchlichen und tendenziell auseinander driftenden Organisation ermöglichen.
  2. Sich konsequent am Kunden orientieren, weil der Abnehmer der eigenen Leistung, also der Kunde, letztendlich über die wirtschaftliche Existenzberechtigung entscheidet. Kundenorientierung schafft darüber hinaus Orientierung für das praktische Alltagshandeln.
  3. Sich an den verfügbaren Ressourcen orientieren: Damit ist quasi ein Gegenpol zur Kundenorientierung gemeint. Ressourcenorientierung schafft ebenfalls Orientierung für das praktische Alltagshandeln, es begrenzt und erdet. Ressourcen sind z.B. Kapital, Wissen und Können, Netzwerke und Image. Was können wir zur Erreichung unserer Ziele einsetzen? Und was können wir riskieren, welche möglichen Verluste wären gerade noch verkraftbar?
  4. Intensiv mit den wichtigen Stakeholdern zusammen arbeiten: Anstatt auf die Zukunft zu warten ist es weitaus erfolgsversprechender, sie auf der Grundlage von strategischen Partnerschaften, von aktivierten Netzwerken und konkreten Vereinbarungen mit den jeweils relevanten Stakeholdern zu gestalten. Menschen sind wichtiger als Konzepte und Kommunikation ist wichtiger als distanziertes Analysieren. In der Zusammenarbeit ist eine Haltung des „Win-Win“ erforderlich, denn die gemeinsame Gestaltung der Zukunft ist anspruchsvolles Teamwork.
  5. Auf Selbstorganisation setzen, weil mit dieser Arbeitsform das Problemlösungspotenzial von Organisationseinheiten am besten erschlossen werden kann. Flexibilität, die weitest gehende Nutzung des vorhandenen Wissens und der Kreativität der beteiligten Menschen sind das Ziel. Funktionierende Selbstorganisation drängt die Hierarchie zugunsten eines Wissens- und Ideenaustauschs auf Augenhöhe zurück und führt zu wechselseitiger Inspiration und Motivation. Die Teams bzw. Subeinheiten sind in der Regel teilautonom und beschäftigen sich mit lokalen Lösungen. Damit werden sie der äußeren Umweltkomplexität besser gerecht, sorgen aber mit ihrer Arbeitsweise und mit ihren spezifischen Ergebnissen für zusätzliche Buntheit und Widersprüchlichkeit in ihren Organisationen.
  6. Machen und Probieren geht vor Theoretisieren: Weil eine komplexe Umwelt nicht vollständig erfasst und modelliert werden kann, sind die konkreten Handlungsergebnisse bzw. die funktionierenden (Teil-) Produkte der Maßstab für gelingendes Handeln. In der Fußballer Sprache gesprochen: „Die Wahrheit ist auf dem Platz“. Dabei macht es Sinn, immer nur „auf Sicht“ zu fahren, also in kleinen, experimentellen Schritten und iterativ, mit regelmäßigen Feedbackschleifen. Auf diese Weise wird kontinuierlich gelernt, was die Qualität der Zusammenarbeit und der der Arbeit zugrunde liegenden Hypothesen erhöht.
  7. Das Tempo wechseln - machen und reflektieren: Tempo und ständige Beschleunigung sind Zeichen unserer Zeit. Tempo machen ist oft notwendig, u.a. weil die Konkurrenz nicht schläft und weil Kunden im Allgemeinen ungeduldiger geworden sind. Oft scheinen allerdings Tempo und Beschleunigung zum Selbstzweck geworden zu sein. Das ist gefährlich: Ständiges Fahren auf der Überholspur macht unsensibel, und Aktion ohne Reflexion fährt an die Wand. Weil ständig Unvorhergesehenes passiert, sind Phasen der Entschleunigung für die Reflexion des Geschehenen, für eine kritische Standortbestimmung, eine Vorgehensüberprüfung und Befindlichkeitsklärung unverzichtbar.
  8. Für Veränderungen offen sein, weil es ohnehin anders kommt als geplant. In einer komplexen Welt ergeben sich immer Überraschungen, Irritationen und Planungsabweichungen. Die (grobe) Planung des gemeinsamen Vorgehens bleibt trotzdem sinnvoll, weil die Verhältnisse selten vollkommen chaotisch sind und sich Ziele bestenfalls zufällig von alleine einstellen. Geplante Umsetzungsmaßnahmen sind meistens nicht völlig falsch, schaffen Sicherheit und  liefern einen strukturellen Rahmen, der es leichter macht, Abweichungen zu analysieren und daraus zu lernen. Eine zu aufwändige und detaillierte Planung kann allerdings dazu führen, dass die Aufmerksamkeit einseitig in der Zukunft bzw. in der Planumsetzung liegt und dabei übersehen wird, dass eine unerwartete Wendung in der Gegenwart eine großartige Gelegenheit darstellt.
  9. Vertrauen ausbilden: Die meisten Maßnahmen, die der erfolgreichen Bewältigung von „VUCA“ dienen, machen es übergeordneten Instanzen schwerer, so wie gewohnt zu kontrollieren. Der relative Kontrollverlust kann durch Vertrauen gestützt auf Transparenz, Zuverlässigkeit und persönliche Glaubwürdigkeit ersetzt werden. Vertrauen ist dabei dreidimensional: Vertrauen in sich selbst, in die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Mit-Beteiligten sowie in den Lauf der Dinge. Diese drei Dimensionen bedingen sich gegenseitig und haben das Potenzial, im positiven wie im negativen Fall mächtige selbsterfüllende Prophezeiungen auszulösen. Zu vertrauen heißt im Übrigen nicht, auf jede Form der Kontrolle zu verzichten. Es gilt, jeweils situativ geeignete Formen auszuwählen (Feedback / Feed Forward, vollständig / in Stichproben, externe / soziale Kontrolle etc.). Nichtsdestotrotz: Am Ende ist ein Vertrauenssprung notwendig, der mehr ist als ausrechenbares Kalkül.

Die vorgestellten neun Prinzipien ermöglichen nicht die Rückkehr zu den vergleichsweise überschaubaren und sicheren Verhältnissen der Vergangenheit. Da sie aber das Potenzial besitzen, mit einer VUCA Welt besser zu Recht zu kommen, können sie nicht zuletzt unser Vertrauen stärken, einigermaßen gewappnet zu sein für eine anspruchsvolle, riskante, aber durchaus auch chancenreiche Gegenwart.

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


Individuelle Beratung unter +49 69 9399677-0 oder info@metrionconsulting.de

Veränderungsprozesse brauchen spürbare Dringlichkeit. Klar werden muss, ‚welche Not es zu wenden gilt’. Wenn Menschen den Eindruck bekommen, dass alles auch so weitergehen könnte wie bisher, warum sollten sie dann etwas ändern?

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting