15. September 2009

Komplexität handhaben

„Es gibt Menschen, denen sagt man nur ein einziges Wort, und sie verstehen ein ganzes Buch. Es gibt Menschen, denen erzählt man ein ganzes Buch, und sie verstehen kein einziges Wort“ (Maria Pruckner, 2005).

Wir alle leben in einer komplexen Welt. Dieser Satz klingt banal, er wird niemanden überraschen. Überraschend ist allenfalls, dass unser Alltagsbewusstsein, unser gewöhnliches Denken und Handeln, von dieser Erkenntnis häufig unbeeinflusst zu sein scheint. Wir tun so, als ob sich die Dinge um uns herum in einfacher und gewohnter Weise fortentwickeln und finden das mehr oder weniger selbstverständlich. Wir denken nicht darüber nach und sind uns dennoch ziemlich sicher.

Einerseits ist dieses Verhalten praktisch, denn es schützt uns vor Konfusion und Verwirrung. Der Versuch, die ganze Komplexität einer Situation erfassen zu wollen, führt schnell zu einem geistigen „overload“ und mentalen Lähmungserscheinungen. So wie bei dem berühmten Tausendfüssler, der bei dem Versuch, bewusst seine Schritte zu setzen, ins Straucheln und nicht voran kommen würde. Andererseits kommt es infolge der Nichtbeachtung von Komplexität immer wieder zu Pannen und zu teils gravierenden Fehlern. In solchen Momenten wird uns bewusst, dass unsere Vorstellungen über die Realität zumindest in Teilbereichen falsch waren. Wir blicken nicht mehr durch, spüren Stress, fühlen uns bedroht und irgendwie in der (Komplexitäts-) Falle. Das Bedürfnis, rasch wieder zur alten Sicherheit zurück zu finden, lässt uns den misslungenen Vorfall aber schnell wieder vergessen (verdrängen) oder eine sehr einfache Erklärung dafür finden, z.B. Pech, ungünstig stehende Sterne, hinterhältiges oder nachlässiges, kurz: schuldhaftes Verhalten anderer.

Unsere Welt war schon immer komplex. Allerdings wurde dieser Sachverhalt in den letzten Jahren und Jahrzehnten mit dem Aufkommen der Informationsgesellschaft und der Globalisierung immer deutlicher. In geradezu exponentiellem Ausmaß haben das Angebot an Daten und Informationen und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten und Handlungszwänge für uns zugenommen. Uns werden erheblich mehr und schnellere Entscheidungen abverlangt als früher. Und darauf sind die wenigsten von uns genügend vorbereitet.

Der Begriff „Komplexität“ beschreibt eine Eigenschaft vieler physikalischer, technischer, biologischer oder sozialer Systeme. Soziale Systeme sind beispielsweise Gesellschaften, Volkswirtschaften, Organisationen, Teams oder Familien. Sie sind komplex, weil sie imstande sind, viele mögliche Unterschiede, Nuancen, Abstufungen oder Varianten hervorzubringen. Systeme setzen sich aus unterschiedlichen, manchmal sehr vielen Elementen zusammen, die untereinander in Wechselwirkung stehen. Ein komplexes System ist nie vollständig durchschaubar. Es verändert sich durch jeden Impuls, abhängig von seiner variablen und äußerlich normalerweise nicht erkennbaren inneren Struktur, welche wiederum durch seine ganz spezielle Geschichte geprägt wurde. Komplexe Systeme sind deshalb immer Unikate. Sie entwickeln sich ihren inneren Regeln entsprechend eigendynamisch fort, Überraschungen sind unvermeidbar. Komplexe Systeme sind in den Worten von Heinz von Foerster, einem bekannten Physiker und Mitbegründer der Kybernetik, nicht-triviale Systeme, weil ihre Reaktionen aufgrund ihres uneinsehbaren und nicht gleichförmigen inneren Zustandes nicht prognostizierbar sind [output = f (input, innerer Zustand)]. Anders ist es bei den sog. trivialen Systemen. Hierzu gehören die meisten technischen Aggregate wie z.B. Automobile, Produktions- oder Computeranlagen. Triviale Systeme können hoch kompliziert sein, aber ihr Verhalten als Folge eines von außen gesetzten Impulses ist prinzipiell berechenbar, jedenfalls unter normalen Bedingungen [output = f (input)]. Beginnt das Auto allerdings auf regennasser Fahrbahn zu schleudern, kann es als Teil eines nicht trivialen Systems zum Entsetzen seines Fahrers seinen trivialen Charakter verlieren. Triviale Systeme stellen in unserer komplexen Welt einen Sonderfall dar, obwohl in einer technisch geprägten Umwelt häufig der gegenteilige Eindruck vorherrscht. Nicht triviale Systeme lassen sich nur indirekt und unvollständig steuern. Das wissen u.a. Wirtschaftspolitiker, die es mit dem Mega-System Volkswirtschaft zu tun haben und gleichzeitig für Wachstum, Preisstabilität und Beschäftigung sorgen sollen. Ziele lassen sich höchstens auf verschlungenen Wegen erreichen, zufällig oder auf der Grundlage eines ungefähr zutreffenden Systemverständnisses. Wenn Ziele zufällig erreicht werden, haben wichtige Größen den Akteuren unerkannt „in die Karten gespielt“. So wie manche Regierungen einen beginnenden Wirtschaftsaufschwung auf ihre Fahnen schreiben, obwohl er auf ganz andere Ursachen zurückzuführen ist, die niemand so genau kennt.

Komplexe Systeme vollständig zu erfassen ist extrem schwierig und meist nur näherungsweise möglich. Unter anderem hindern uns die Eigenarten unseres Nervensystems daran: Unser bewusstes Denken funktioniert recht langsam, hat große Schwierigkeiten, zeitliche Verläufe adäquat abzubilden und kann sich auch nur mit wenigen Dingen zur gleichen Zeit beschäftigen. Gehirnforscher sprechen von sieben plus/minus zwei Elementen (Gedanken oder Sinneseindrücken), mit denen wir gleichzeitig in unserem „Arbeitsspeicher“ operieren können. Wir sind deshalb auf Hilfen, auf „Denkzeuge“ angewiesen. Weiterhin bringen es die Besonderheiten komplexer Situationen mit sich, dass sie viel mehr Informationen enthalten, als man jemals über sie bekommen kann, auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, in Informationen zu ertrinken. Für unsere normalen (Steuerungs-) Zwecke genügt es glücklicherweise, nur einen kleinen Teil von ihnen zu kennen, nämlich die relevanten Informationen. Sie helfen, den Blick auf den richtigen Realitätsausschnitt zu richten und darin die Schlüsselgrößen zu identifizieren. Aber woran können wir erkennen, ob bestimmte Informationen relevant sind oder nicht? In Bezug auf diese Frage erleben wir regelmäßig einen Informationsmangel. Relevanz ist kein objektiver Tatbestand. Was Relevanz im konkreten Fall bedeutet und worauf sie sich bezieht, das müssen die handelnden Personen immer selbst festlegen. Wie heißen die wichtigsten Ziele? Welche Ziele sollen vorrangig angestrebt und was soll mit ihrem Erreichen anders werden? Welche Wünsche, Interessen, Nöte oder Bedürfnisse stehen dahinter? Welcher Realitätsausschnitt ist infolgedessen wesentlich? Wie lässt er sich beschreiben und welche fundamentalen Zusammenhänge wirken hier? Auf welche Zusammenhänge kommt es an?

Wie die Beteiligten die Situation sehen, was sie denken, welche Ziele, Wünsche oder Bedürfnisse sie verfolgen, ist der Situation natürlich völlig gleichgültig. Diese entwickelt sich so, wie sie sich entwickelt, stur und konsequent ihren eigenen, inneren Regeln folgend. Veränderung verlangt Aktion. Um komplexe und eigendynamische Situationen planvoll und in gewünschter Weise zu verändern, müssen die Regeln des Systems zumindest grob verstanden und beachtet werden. Erfolgreiches Handeln ist regelkonformes Handeln, schwimmen lässt sich auf Dauer immer nur mit dem Strom, niemals gegen den Strom.

Komplexe Situationen erfolgreich zu beeinflussen, verlangt zuvor eine gedankliche oder intuitive Strukturierung. Das ist eine Voraussetzung für planvolles Handeln. Als Raster für die Strukturierung komplexer Situationen haben sich die folgenden Fragen bewährt:

  • Was ist die Situation und wodurch wird sie bestimmt? (durch die Antwort wird ein relevanter Ausschnitt aus der Realität definiert)
  • Was ist das Problem? (Probleme sind Soll/Ist – Abweichungen. Deshalb sind mit der Problemfestlegung die Bewertung der Gegenwart und der gewünschte Zielzustand schon impliziert)
  • Was ist die Frage? (die Antwort bringt eine weitere Zuspitzung und Konkretisierung)
  • Was ist die Lösung? (hier lassen sich bei Bedarf verschiedene Lösungsrichtungen oder Konkretisierungsstufen unterscheiden)
  • Was ist zu tun und woran werden wir Fortschritte erkennen? (eventuell unterteilt in kurz-, mittel- und langfristige Handlungspläne)
  • Womit ist auf dem Weg zur Lösung – dem Ziel – voraussichtlich zu rechnen? (eventuelle Hindernisse und „Rückenwindfaktoren“)
  • Wann werden in welcher Weise Zwischenergebnisse erfasst und reflektiert? (Rückkoppelung, um aus den Erfahrungen zu lernen und um gegebenenfalls erfolgreich nachsteuern zu können)

Ein solches Fragenraster hilft, Übersicht zu gewinnen und in eine planvolle Aktion zu treten. Allerdings gelingt das nur, wenn die Fragen nicht mechanisch abgearbeitet werden. Wiederholungsschleifen sind normalerweise nicht zu vermeiden. Was z.B. genau das Problem ist, wird häufig erst beim Versuch, es zu lösen, deutlich. Und mit zunehmendem Wissen über die Problemsituation verändern sich häufig auch die Ziele und Zielhierarchien. Neue oder andere Zusammenhänge können dabei in den Blick geraten.

Zum Glück ist es nicht erforderlich, sämtliche Zusammenhänge zu beachten. Ein Modell, das die Realität im Verhältnis 1 : 1 abbildet, wäre auch völlig nutzlos - abgesehen davon, dass es gar nicht herstellbar wäre. Niemand käme auf die Idee, eine Straßenkarte zu erstellen, die identisch ist mit dem realen Straßennetz. Eine Straßenkarte im Verhältnis 1 : 10 Millionen wäre ebenfalls nutzlos. Nützlich ist es dagegen, je nach Bedarf den Auflösungsgrad, sozusagen die Flughöhe, zu variieren: weniger Details, dafür mehr Struktur und umgekehrt. Durch steigende „Flughöhe“ (im Sinne einer kontrollierten Vernachlässigung) lässt sich Komplexität reduzieren und mehr Übersicht gewinnen. Aber die bewusst vernachlässigten Themen müssen zu ihrer Überprüfung immer wieder ins Bild zurückgeholt werden.

Beim Umgang mit komplexen Situationen ergeben sich immer wieder neue Erfahrungen, die die bis dahin gültigen Annahmen relativieren oder erschüttern. Außerdem treten Zielkonflikte hervor, die ständig neue Prioritäten und Balancen verlangen. Das kann ermüden und bis an den Rand der Verzweiflung führen. Insofern geschieht es nicht selten, dass zur Rettung einmal gewonnener Einsichten alte Festlegungen mit großem Einsatz und manchmal gegen die eigene Vernunft verteidigt und Aufrecht erhalten werden. Nur solche Informationen werden dann beachtet, die die alten Hypothesen stützen, andere werden ausgeblendet oder herunter gespielt.

Ein anderer typischer Fehler beim Umgang mit komplexen Systemen besteht darin, sich nur mit den beherrschbaren oder akuten, gerade besonders „laut schreienden“ Einzelproblemen zu beschäftigen. So werden - statt auf das relevante Gesamtsystem zu schauen - kleine Reparaturarbeiten vorgenommen, die kurzfristig zu lokalen Verbesserungen führen, aber rasch neuen Reparaturbedarf an anderer Stelle auslösen. Auf diese Weise sorgt man selbst dafür, ständig unterwegs zu sein, behält aber wenigstens das gute Gefühl dabei, etwas zu unternehmen. Ohne große Linie wird jedoch eine Verbesserung auf der Ebene des Gesamtsystems kaum eintreten.

Ein ähnlicher Fehler besteht darin, sich an einem richtig erkannten Schwerpunkt festzubeißen. Erste Erfolge signalisieren, auf dem richtigen Weg zu sein. Aber die Vernachlässigung anderer Aspekte oder die Ignoranz von Fern- und Nebenwirkungen sorgen dafür, dass sich die Dinge nicht weiter verbessern oder sich sogar wieder verschlechtern.

Viele Maßnahmen wirken außerdem erst nach einer gewissen Zeitverzögerung. Ungeduld oder Zweifel, das Richtige getan zu haben, führen häufig zu kräftigen „Nachbesserungen“ und damit zu Übersteuerungseffekten. Längerfristig kann ein solches Verhalten zu eskalierenden Schaukelbewegungen im System führen.

Die Fokussierung (Beschränkung) auf bestimmte Zielvorstellungen, Realitätsausschnitte und Zusammenhänge hilft, relevante Informationen von weniger relevanten zu unterscheiden. Ihre Integration in ein pragmatisches Modell und darauf gründende Entscheidungen und Aktivitäten sind die nächsten Schritte, um gewünschte Ergebnisse in komplexen Situationen zu erreichen. Ob wir mit der Relevanzbestimmung und mit unserem Realitätsverständnis richtig liegen, entscheidet sich am Ergebnis. Richtiges Handeln ist gelingendes Handeln, bezogen auf das, was wir erreichen wollen. Und wenn es nicht funktioniert, müssen alte Vorstellungen über Bord geworfen und muss es mit neuen Hypothesen neu versucht werden, die eventuell wieder andere Gesichtspunkte und veränderte Realitätsvorstellungen mit sich bringen. Wenn unsere Vorhaben gelingen, ist das allerdings noch kein Beweis für die Richtigkeit unserer Annahmen. Viele noch unbekannte Ursachen können ganz wesentlich zum Erfolg beigetragen haben. Wenn unsere Vorhaben aber nicht gelingen, ist klar, dass an unseren Theorien etwas fehlt oder falsch ist. Die Neugierde, Unbekümmertheit und Kreativität beim Testen von Vorstellungen und die Ehrlichkeit und Gelassenheit beim Überprüfen und Bewerten der Ergebnisse machen es aus, wie gut jemand mit komplexen Situationen zurecht kommt. Wer darauf verzichtet, auf „fertige“ Erklärungen und Wirklichkeitsvorstellungen zu beharren, muss das mit einer mehr oder weniger großen Unsicherheit „bezahlen“. Sich nicht auszukennen und bestimmte Dynamiken, in die man persönlich involviert ist, nicht im Griff zu haben - das erleben die meisten Menschen als sehr unangenehm. Viele flüchten in solchen Situationen in Scheinsicherheiten und lassen unliebsame Fragen oder Informationen nicht an sich heran (siehe oben). Desillusionierungen können danach umso schmerzhafter und teurer werden. Eine sinnvolle Alternative ist es, Risiken und unvermeidbare Unsicherheiten dadurch zu reduzieren, dass sowohl auf die Strategie „Kopf in den Sand“ als auch auf den „großen Wurf“ verzichtet wird und stattdessen kleine, überprüfbare und notfalls revidierbare Schritte in die gewünschte Richtung gesetzt werden. Ein solches Verhalten ist auch deshalb erfolgreicher, weil es das Lernen in komplexen Situationen wesentlich erleichtert.

 

Literaturempfehlungen

Dörner Dietrich (1993): Die Logik des Misslingens; Strategisches Denken in komplexen Situationen, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg

Kirchhof, Robert (2003): Ganzheitliches Komplexitätsmanagement; Grundlagen und Methodik des Umgangs mit Komplexität im Unternehmen, Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden

Malik, Fredmund (2003): Systemisches Management, Evolution, Selbst-organisation; Grundprobleme, Funktionsmechanismen und Lösungsansätze für komplexe Systeme, Haupt Verlag, Bern

Pruckner, Maria (2005): Die Komplexitätsfalle; wie sich Komplexität auf den Menschen auswirkt: vom Informationsmangel bis zum Zusammenbruch, Books on Demand GmbH, Norderstedt

Vester, Frederic (2002): Die Kunst, vernetzt zu denken; Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Über den Autor

Wolfgang Reiber liebt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, etwa das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten in Organisationen und Gesellschaft. Gemeinsam darüber nachzudenken, was ist, was sein sollte und wie es gehen könnte, mit Respekt und mit einer Prise Humor, das schätzen er und seine Kunden ganz besonders.


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Das Ausbleiben von Widerstand bei größeren Veränderungsprozessen wäre Grund zur Beunruhigung. Das Auftreten von Widerstand kann als Zeichen dafür verstanden werden, dass der innere Transformationsprozess bei den betroffenen Mitarbeitern begonnen hat.

Wolfgang Reiber - Partner im Ruhestand, Metrion Management Consulting