15. Juli 2011

Die Vielen in Uns Einem. Das Modell des inneren Teams als Mittel zur Selbstwahrnehmung und Steuerung.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem im September 2011 von Stefan Hölscher im Junfermann Verlag erschienenen Buch:
Leben mit Drive
Grafische Darstellungen: Jasmin Cosentino

Das Modell des inneren Teams

Wir alle sind es gewohnt, ständig von „Teams“ zu sprechen. Geht man nach der Häufigkeit, mit der dieses Wort fällt, so scheint die Welt fast nur aus Teams zu bestehen: in der Arbeit (da sowieso), beim Sport, in Vereinen, aber auch in der Familie und sogar in der Politik.

Mit dem Wort „Team“ verbinden wir im Allgemeinen, dass es mehrere Teammitglieder gibt, deren Zusammenspiel dazu dienen soll, die gemeinsamen Ziele möglichst gut zu erreichen. Idealerweise werden sich die Teammitglieder dabei wechselseitig inspirieren, unterstützen, helfen und füreinander da sein. Im tatsächlich gelebten Leben sieht dies offenbar recht unterschiedlich aus. Teammitglieder können einander wunderbar ergänzen, sie können sich respektieren, wertschätzen und inniglich zugetan sein, sie können sich aber auch aneinander reiben, einander blockieren, sich im Weg stehen, sich gegenseitig lahmlegen oder sich wechselseitig das Leben zur Hölle machen. Der Umgang der Teammitglieder miteinander kann eher partnerschaftlich und konsensorientiert sein, er kann aber auch quasi diktatorisch von ein oder zwei Teammitgliedern beherrscht oder von wiederkehrenden zermürbenden Konflikten geprägt sein. Was in Teams und zwischen deren jeweiligen Mitgliedern passiert, ist bunt – so bunt wie das Leben.

Und ganz ähnlich kann es nun auch in jedem von uns selbst aussehen. Wir haben diverse und wahrlich nicht deckungsgleiche Strebungen in uns, die sich auf unterschiedliche Weise artikulieren, die einander mehr oder weniger gut ergänzen oder im Wege stehen können und die ein mehr oder weniger partnerschaftliches oder einseitig dominiertes bzw. wechselseitig paralysiertes Bild abgeben. Wir haben immer auch eine Art von Team in uns: gleichsam unser inneres Team. Wir sind nicht einer, auch wenn dies von außen und vielleicht auch von innen so erscheinen mag. Wir sind viele. Ein Kollege von mir pflegt gerne zu sagen: wir sind alle multiple Persönlichkeiten.

Um es noch einmal etwas klassischer auszudrücken: schon Goethe lässt seinen Faust feststellen „Zwei Seelen wohnen – ach – in meiner Brust.“ Und dies, so könnte man anfügen, ist sogar noch eine relativ einfache Gemengelage, denn normalerweise sind es weitaus mehr als zwei, es sind viele: wir wollen erfolgreich sein und Karriere machen, wir wollen uns aber auch nicht überarbeiten; wir wollen Zeit für uns selbst, und natürlich wollen wir auch eine erfüllende Beziehung, in der man füreinander da ist, aber sich natürlich nicht einengt, denn wir möchten auch unsere Unabhängigkeit bewahren; wir wollen in vollen Zügen genießen, wir wollen aber auch gesund sein und alt werden; wir wollen uns über Geld keine Sorgen machen müssen, wir möchten gut verdienen, aber wir wollen auch leben - jetzt und hier und gleich, und wir wollen dabei die Zukunft nicht aus den Augen verlieren und so weiter. All diese verschiedenen Strebungen kann man sich vorstellen als das, was verschiedene Mitglieder unseres inneren Teams – also verschiedene Teile oder Seiten in uns – zum Ausdruck bringen. Um das bunte Leben in Teams zu erleben, müssen wir nicht aus dem Haus gehen; wir haben schon alles in uns inklusive.

 

Ein grundlegendes Faktum ist, dass es in uns in nahezu jedem Moment unseres Daseins verschiedene, miteinander mehr oder weniger gut harmonierende Strebungen oder Seiten gibt. Diese verschiedenen Strebungen oder Seiten kann man als einzelne Mitglieder eines Teams betrachten. Dies ist die Grundidee des Modells vom inneren Team.

 

Das Konzept des inneren Teams wurde besonders von Friedemann Schulz von Thun in seinem Buch „Miteinander Reden. Band 3. Das ‚Innere Team‘ und situationsgerechte Kommunikation“ erläutert und in seinen Anwendungsmöglichkeiten systematisch dargestellt. Wer dieses Konzept als erster in die psychologische Diskussion der letzten Jahrzehnte eingeführt hat, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Was man aber mit Sicherheit sagen kann, ist: Bilder und Begriffe davon, dass verschiedene „Seiten“, „Strebungen“, „Bedürfnisse“, „Seelen“, „Teile“, „Aspekte“, „Zustände“ etc. in uns vorhanden sind, durchziehen die Geschichte von Philosophie, Literatur und Kunst seit der Antike. Von daher ist die Idee des inneren Teams wohl eher eine Explizierung menschlicher Grundintuitionen als eine konzeptionelle Erfindung. Die Beiträge zum Konzept des inneren Teams aus den letzten Jahrzehnten, wie insbesondere der von Schulz von Thun, aber ebenso auch die kreative Einbindung dieses Konzepts in die therapeutische und beraterische Arbeit, wie insbesondere bei dem Heidelberger Hypno- und Systemtherapeuten Gunter Schmidt, haben sicher sehr fruchtbare Anwendungsmöglichkeiten eröffnet.      

Was ist nun der Nutzen des Modells vom inneren Team? Inwiefern kann dieses Modell eine fruchtbare Reflexionshilfe sein? Lassen Sie uns, um dies besser zu verstehen, zum einen auf Situationen schauen, in denen man sich ganz und gar durch bestimmte negative Emotionen beherrscht fühlt und zum anderen auf Situationen, in denen man das Gefühl hat, blockiert und wie gelähmt zu sein.

 

Abstand zum Negativen

Jeder von uns kennt Situationen, in denen man sich ganz im Sog bestimmter negativer Emotionen befindet: Empörung, Ärger, Wut, Zorn, Angst, Furcht, Scham, Ekel, Trauer, Hilflosigkeit oder eine Mischung daraus. Die ganze Welt in einem selbst und um einen herum scheint davon durchtränkt zu sein. Nichts anderes scheint es zu geben als diesen negativen Sog. Und doch ist das natürlich nie die ganze Geschichte. Klar ist: eine bestimmte Gefühlslage ist hier gerade äußerst stark und dominant. Im Modell des inneren Teams würde man sagen: ein Teammitglied steht im Vordergrund. Vielleicht sind es auch zwei oder drei. Sie sind gerade so beherrschend, dass es so aussieht, als gäbe es nur sie allein. Sie haben die Bühne für sich. Doch bei genauerem Hinsehen gibt es immer auch noch andere – vielleicht sind die gerade ganz von der Bühne abgedrängt, (nahezu) mundtot gemacht und so klein und leise, dass man sie kaum noch wahrnehmen kann. Doch sie sind da. Von daher lohnt es sich, gerade auch in solchen Situationen zu fragen: welche anderen Teammitglieder gibt es hier noch, welche anderen Strebungen, Stimmungen, Sichtweisen? Und bei genauerem Hinsehen lassen sie sich immer entdecken, zum Beispiel neben einem starken Duo, dem es um persönliche Selbstbehauptung und Gut-vor-der-Welt-Dastehen geht und das gerade, weil es sich so unvorstellbar schlecht behandelt fühlt, übermächtig voll von Ärger, Zorn und verletzter Eitelkeit ist, die es lautstark aus sich heraus schreit – daneben, kaum zu glauben und kaum zu hören, gibt es auch noch andere Stimmen: etwa eine Stimme des Verständnisses und Mitgefühls, eine Stimme der Versöhnung oder eine Stimme des Achtens auf persönliches Wohlergehen.

Die Frage: „Und welche Stimmen, welche Teammitglieder gibt es noch?“  kann manchmal fast ein Wunder bewirken; denn, geht man der Frage ernsthaft nach, kann sie einem helfen, innere Teammitglieder, die wichtige andere Bedürfnisse, Motive, Strebungen repräsentieren, wahrzunehmen, die zuvor unsichtbar, unhörbar, geradezu nicht-existent erschienen. Und allein wenn das passiert, sieht die Welt schon wieder ein klein wenig anders aus: natürlich nicht rosa-rot, aber auch schon nicht mehr ganz so schwarz. Es ergibt sich ein facettenreicheres Bild, und es ergibt sich ein wenig Abstand zum düsteren Geschehen. Dieser Abstand entsteht durch die Einsicht, dass man zwar gerade sehr ausgeprägt Ärger, Wut, Empörung oder was immer, hat, dass man aber nicht der Ärger, die Wut, die Empörung ist. Die Gefühle sind, um im Bild des Modells zu bleiben, offenbar starke Reaktionen starker innerer Teammitglieder. Daneben gibt es allerdings auch immer noch andere Teammitglieder mit anderen Interessen und anderen Reaktionen. Diesen anderen Teammitgliedern könnte man nun wieder stärker seine Aufmerksamkeit widmen, ihre Botschaften wahrnehmen und ernst nehmen und so peu à peu wieder stimmigere und positivere Verhältnisse für sich herstellen.

 

Auch wenn in einer bestimmten Situation gerade eine negative Stimmungslage in mir absolut vorherrschend ist, so kann ich schon durch die Frage, welche anderen Mitglieder meines inneren Teams sich außerdem noch zu dieser Situation melden (möchten), ein wenig Abstand zum Geschehen herstellen und damit meinen Gestaltungsspielraum erhöhen.

 

So wie es immer mal wieder Situationen gibt, in denen man sich durch eine bestimmte negative Stimmungslage beherrscht fühlt, so gibt es auch Situationen, in denen man sich blockiert oder wie gelähmt fühlt.

 

Lösen von Blockaden

Herr Sensor, ein Coachingkunde von mir, war, als ich ihn kennenlernte, auf Bereichsleiterebene in seiner Firma, einem international agierenden  Dienstleistungsunternehmen, tätig. Er wollte ein Coaching unter anderem deswegen machen, weil er in bestimmten Situationen, insbesondere dann, wenn es vor einem größeren Kreis von Kollegen um nicht-fachliche Themen und eine wirkungsvolle Selbstpräsentation ging, ausgeprägte Blockaden erlebte. Diese Blockaden äußerten sich bei Herrn Sensor darin, dass er kaum in der Lage war, etwas zu sagen, so dass er manche Zusammenkünfte auf diese Weise komplett schweigend verbrachte oder aber, wenn er einen Wortbeitrag machte, merkte, dass er sehr aufgeregt und angespannt war und seine Statements deutlich weniger eloquent als die anderer Kollegen ausfielen. Ging es andererseits um Themen seiner fachlichen Zuständigkeit, traten solche Blockaden grundsätzlich nicht auf, egal, wie groß oder hochstehend in der Hierarchie die Teilnehmer waren. Auch wenn Herr Sensor die Menschen bei einer Zusammenkunft sehr gut kannte und schätzte, hatte er – unabhängig vom Thema – derartige Blockaden nicht. Insgesamt traten Situationen, in denen Herr Sensor sich blockiert fühlte, nur sehr selten in seinem Alltag auf. Trotzdem störten sie ihn machten ihm auch in Hinblick auf einen weiteren möglichen Karriereschritt Sorgen, weil er vermutete dann häufiger in nicht fachlich geprägten Situationen vor größeren Menschenmengen sprechen zu müssen. Als ich Herrn Sensor fragte, wie wichtig ihm denn ein weiterer Karriereschritt sei, machte er mir deutlich, dass er, wenn sich die Möglichkeit ergäbe, dazu zwar „Ja“ sagen würde, dass das für ihn aber nicht essentiell sei, da er auf seiner Ebene sehr zufrieden sei. Trotzdem würden ihn die Blockaden, auch wenn sie noch so selten auftreten, ärgern.

Herr Sensor erzählte mir dann von einer für ihn höchst bedeutsamen Begebenheit, die über 20 Jahre zurücklag. In seiner Studienzeit war Herr Sensor Mitglied der studentischen Selbstverwaltung. Während einer größeren Sitzung, bei der die Mitglieder der Selbstverwaltung und viele andere Studierende anwesend waren, gab es Personen, die anlässlich eines bestimmten Agendapunktes sehr massiv homosexuellenfeindliche Parolen äußerten. Herr Sensor, der mir erzählte, dass er schwul sei, jedoch zu der damaligen Zeit sehr versteckt mit seinem Schwulsein umgegangen sei, berichtete, dass er in der Situation sofort die Notwendigkeit gespürt habe, deutlich etwas gegen die vorgebrachten Parolen zu sagen. Gleichzeitig habe er aber große Angst gespürt und sich außer Stande gefühlt, auch nur ein Wort von sich zu geben. So schwieg er während der gesamten Zusammenkunft, konnte sich dies allerdings niemals mehr wirklich verzeihen. Herr Sensor sagte, dass in all den Situationen, in denen er heutzutage Blockaden erlebte, wohl etwas Ähnliches wie damals abliefe.

Nachdem ich Herrn Sensor kurz das Modell des inneren Teams vorgestellt hatte, fragte ich ihn, was er glaube, welche Mitglieder seines inneren Teams sich denn in den Situationen, von denen er berichtet hatte, melden würden. Herr Sensor meinte, dass es da zum einen ein starkes Mitglied seines inneren Team gäbe, dessen Anliegen sein Schutz und seine Sicherheit sei, dass es gleichzeitig aber auch ein anderes starkes Teammitglied gäbe, dem es darum ginge, dass er das, was ihm persönlich bedeutsam sei, auch deutlich artikuliere. Als drittes nannte er noch ein Teammitglied, dem persönliche Unabhängigkeit sehr wichtig sei und das Formen der Selbstdarstellung, die vor allem dazu dienten, bei anderen gut anzukommen, überhaupt nicht möge. Und schließlich ergänzte er noch ein Teammitglied, dem es darum gehe, einen guten Eindruck zu machen und von anderen geschätzt und gemocht zu werden. Herr Sensor meinte, dass für die von ihm erlebten Blockaden wohl vor allem einerseits das Bedürfnis nach Sicherheit und andererseits das Bedürfnis, die ihm wichtigen Dinge auszusprechen, verantwortlich seien.

Nachdem wir noch etwas näher über das Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Teammitglieder gesprochen hatten, fragte ich Herrn Sensor, der betont hatte, dass die Teilnahme an den für ihn mit Stress verbundenen größeren Zusammenkünften in seiner Organisation für ihn in keiner Hinsicht wesentlich sei, wie es denn wäre, wenn er sich, was sein Job problemlos zuließe, möglichst immer dann eine wichtige Dienstreise in den Kalender setzen würde, wenn wieder eines jener Meetings stattfindet. Herr Sensor meinte, das sei eine gute Idee, das wolle er machen. Daraufhin stellte ich ihm noch ein anderes Szenario vor. Ich fragte ihn, wie es wäre, wenn er zwar zu jenen Zusammenkünften hinginge, wenn er sie aber schweigend über sich ergehen ließe – ohne sich das hinterher in irgendeiner Weise zum Vorwurf zu machen. Herr Sensor meinte, das sei eine gute Idee, das sollte er tun. Anschließend stellte ich ihm noch ein drittes Szenario vor. Ich fragte ihn, was er davon hielte, zu den Meetings hin zu gehen und sich dort genau wie die Kollegen zu verhalten, die sich oft und ausführlich mit Statements positionieren – egal, wie unangenehm das für ihn sei. Herr Sensor sagte, das sei eine gute Idee, genauso wolle er es machen.

Offensichtlich hatte Herr Sensor gerade zu einander ausschließenden Handlungsmöglichkeiten gleichermaßen „Ja“ gesagt, und dies ist kein Zufall.

Wenn ähnlich starke Mitglieder des inneren Teams mit großer Vehemenz von mir diametral Gegensätzliches fordern (im Falle von Herrn Sensor: „Sprich dich aus!“ und „Halte dich bedeckt!“) und diese Gegensätzlichkeit unverändert stehen bleibt, dann gerate ich in eine Situation, bei der ich das Gefühl bekomme, „Egal, was ich tue, es ist verkehrt“ oder aber – quasi spiegelverkehrt – „Ich kann alles und nichts machen; es ist beliebig; alles passt und passt auch wieder nicht.“ Genau dies macht die Blockade aus. Um solche Blockaden lösen zu können, braucht es einen Weg, wie ich in Bezug auf die Forderungen der beiden machtvollen Seiten in mir für die betreffende Situation einen klaren Kurs finde, ohne dass ich dabei die zentralen Bedürfnisse einer dieser Seiten ignoriere, denn das würde angesichts ihrer Wichtigkeit nicht gut gehen können.

Abbildung: Im Clinch liegende innere Teammitglieder von Herrn Sensor

Da mir Herr Sensor deutlich gemacht hatte, dass er, der Mittvierziger, sich sehr gewünscht hätte, als Student Mitte zwanzig in der fraglichen Situation seinen Mund aufgemacht zu haben, „egal wie unangenehm das gewesen wäre“, fragte ich ihn, was er sich denn für ein Verhalten von dem Mittevierzigjährigen wünschen würde, wenn er sich als Mittesechzigjährigen vorstellen würde. Herr Sensor sagte, der Mittsechziger würde auf jeden Fall wollen, dass der Mittvierziger die Dinge, die ihm wirklich wichtig sind, auch in den großen Zusammenkünften mit den nicht-fachlichen Themensetzungen klar anspricht, wohingegen es dem Mittsechziger überhaupt nicht wichtig wäre, dass sich der Mittevierzigjährige mit gekonnter Selbstdarstellung in Szene setzt. Es war deutlich, schon aus der Art heraus, wie Herr Sensor mir diese Antwort gab, dass sie für ihn ungleich stimmiger war als jedes „Ja, das kann ich tun“, das er zuvor zu den verschiedenen Szenarien gegeben hatte.  Mit dem Blick darauf, was er sozusagen vom Ende her betrachtet wollen würde (womit ich nicht das Lebensende, sondern eher das Ende des aktiven Berufslebens meine), fand Herr Sensor eine klare Kursbestimmung für den Umgang mit den unterschiedlichen Forderungen seiner machtvollen Teammitglieder in der Gegenwart.  

Herr Sensor nahm sich vor, sich in den entsprechenden Situationen möglichst bildlich in die Vorstellung des Mittesechzigjährigen zu begeben, um zu entscheiden, wie wichtig ihm ein bestimmter Punkt wirklich sei. Er nutzte die Imagination des Mittsechzigers auch, um sich für das Ausführen seiner Statements Mut und Sicherheit zu holen. Der Mittsechziger zeigte ihm in solchen Situationen immer wieder Verständnis für sein Unbehagen und seine Nervosität und versicherte ihm zugleich, dass das im Laufe der Zeit weniger und besser werden würde durch die Erfahrung, dass nichts Schlimmes passiert, selbst wenn er die Dinge nicht so virtuos darlegen sollte. – Herr Sensor berichtete mir später, dass dies für ihn eine gute und erfolgreiche Strategie im Umgang mit den für ihn so herausfordernden Situationen geworden sei.

Was kann man aus der Geschichte von Herrn Sensor über die Arbeit mit dem inneren Team erfahren? Zum einen kann man sehen, dass das Modell des inneren Teams helfen kann, in Situationen, in denen man Blockaden, Spannungen oder innere Konflikte erlebt, zu erkennen, dass es bestimmte Bedürfnisse und Strebungen von einem sind, die hier in Unstimmigkeit geraten. Dies kann helfen, das Geschehen überhaupt erst einmal besser zu verstehen. Wenn Menschen starke Blockaden oder Spannungen erleben, fühlen sie sich nicht selten wie von einem unerklärlichen Unheil heimgesucht. Wenn man erkennen kann, dass es wichtige eigene Bedürfnisse sind, die angesichts einer bestimmten Situation in einen Clinch miteinander geraten und zu einer inneren Blockade führen, kann man die Situation mit mehr Wertschätzung annehmen und besser mit ihr umgehen.

 

Die Arbeit mit dem inneren Team eröffnet mir in Situationen, in denen ich ausgeprägte Spannungen, Konflikte oder Blockaden erlebe, die Möglichkeit, besser zu verstehen, was eigentlich geschieht. Ich kann erkennen, dass das, was ich als belastend erlebe, durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bedürfnisse und Strebungen von mir zustande kommt. Damit gewinne ich zugleich wertvolle Ansatzpunkte dafür, wie ich die unterschiedlichen Bedürfnisse in ein sinnvolles Zusammenspiel bringen kann.

 

 

Situative Kursbestimmung

Ist die Arbeit mit dem inneren Team vor allem ein Instrument für besonders schwierige und unangenehme Situationen? – Natürlich nicht. Ich kann das Modell des inneren Teams auch in ganz alltäglichen Situationen und auch wenn ich ‚gut drauf bin‘ sinnvoll verwenden.

Ich kann mich zum Beispiel fragen, welche meiner wichtigen inneren Teammitglieder sich jetzt gerade deutlich in mir melden. Wenn ich etwa an mich selbst an diesem heutigen Tag – es ist der Vormittag des 27.01.2011 – denke, so machen sich besonders bemerkbar: der Buchautor in mir, der gerne noch möglichst viel und konzentriert weiterschreiben möchte, da er findet, dass er gerade so gut im Fluss ist; der Fitness- und Wellnessfreak in mir, der gerne in dem schönen Hotel, in dem ich mich derzeit befinde, noch möglichst ausgedehnt Fitness und Wellness betreiben möchte und das viel wichtiger und vor allem viel schöner findet als das für ihn immer auch anstrengendes Schreiben, und schließlich der Ehemann und Vater in mir, der schon seit gestern sehr deutlich artikuliert, dass er es für an der Zeit hält, nach Hause zu fahren und bei Frau und Kindern zu sein, weil er dort gebraucht wird und dort auch wieder sein möchte. Klingt dies nicht aber gleich wieder nach einem Konflikt? – Es könnte natürlich einer daraus werden. Zunächst aber ist es erst einmal nichts anderes als eine Unterschiedlichkeit, mit der es nun umzugehen gilt.

Abbildung: Stefan Hölschers innere Teammitglieder am 27.01.2011

 

Wir haben verschiedene Teammitglieder, Teile, Bedürfnisse, Strebungen, Fraktionen – wie immer Sie es auch nun nennen mögen – in uns. Sie können auch einfach sagen: verschiedene Identitäten. Das ist normal und jederzeit feststellbar, wenn man nur genau genug hinschaut. Die Welt und das Leben sind zu komplex, als dass wir immer nur einer sein könnten. Glücklicherweise können, wollen und tun wir so vieles und eben auch so viel Verschiedenes. Unser Leben ist voller Pluralität. Die Kunst besteht darin, mit dieser Pluralität immer wieder sinnvoll umgehen zu können – mit den Vielen, die in einem Menschen vorhanden sind. Wie können wir die Vielheit in uns erkennen und – wichtiger noch – konstruktiv steuern? Genau dafür kann uns das Modell des inneren Teams gute Dienste erweisen, indem es den Blick darauf lenkt, wer alles da ist (auf der Bühne, hinter der Bühne oder sogar – manchmal fast anarchisch – unter oder über der Bühne) und wie wir mit denen, die sichtbar (oder versteckt) sind, nun möglichst produktiv umgehen möchten.

Wir können das Modell des inneren Teams verwenden, um in einzelnen Situationen zu schauen, welche inneren Teammitglieder sich in der jeweiligen Situation besonders artikulieren und wie wir mit diesem Ensemble dann umgehen wollen – so wie ich es gerade für mich bezogen auf meine innere Situation am Vormittag des 27.01.2011 getan habe. Wir können das Modell aber auch dafür verwenden, ganz generell einen Blick darauf zu werfen, welche Mitglieder in unserem inneren Team sozusagen zur Stammmannschaft gehören und wie wir mit diesem Stammensemble gegenwärtig umgehen und zukünftig umgehen wollen. Ebenso wie wir das Modell es inneren Teams für eine Analyse und eine Kursbestimmung in konkreten Situationen nutzen können, so können wir es also auch für eine systematische Selbstreflexion, eine Standortbestimmung und eine persönliche Vision nutzen.

Frau Motio war nach einer langen Krankheitsphase wieder in ihr altes Arbeitsumfeld zurück gekehrt. Dort hatte es während ihrer Abwesenheit verschiedene Umstrukturierungen und arbeitsplatzbezogene organisatorische Änderungen gegeben. Frau Motio merkte, dass sie sich in ihrem beruflichen Umfeld weniger wohl fühlte als früher, obwohl sie sich sowohl mit ihrer Arbeit als auch der Organisation, für die sie tätig war, und den Menschen in ihrem Umfeld verbunden fühlte. Sie bat um verschiedene Änderungen ihres Zuständigkeitsbereichs, die man ihr auch problemlos gewährte, da man sie und ihre Arbeit über viele Jahre sehr schätzen gelernt hatte. Obwohl Frau Motio die Änderungen in ihrem Aufgabengebiet positiv fand, blieb dennoch das Gefühl, sich nicht wirklich wohl zu fühlen, bestehen. Frau Motio beschloss, ein paar Coachingstunden zu nehmen, um die Frage, wo sie eigentlich gegenwärtig steht und wohin sie sich bewegen will, mit einem neutralen Sparringspartner zu reflektieren.

Nachdem wir auf wichtige Faktoren in ihrem bisherigen beruflichen und persönlichen Lebensweg und ihre aktuelle Situation geschaut hatten, fanden Frau Motio und ich es naheliegend, die unterschiedlichen Bedürfnisbereiche, die für Frau Motio besonders wichtig sind, näher zu betrachten. Um hier einen möglichst ganzheitlichen Überblick zu bekommen, schlug ich Frau Motio vor, die Stammmitglieder ihres inneren Teams zu bestimmen. Frau Motio identifizierte dabei die folgenden Akteure:

 

  • Die Beziehungsorientierte, für die intensive Beziehungen zu anderen Menschen – Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen – zentral sind und der es wichtig ist, dass andere sie mögen und schätzen
  • Die Dialogorientierte, die es braucht und liebt mit anderen Menschen in intensive Gespräche zu gehen, ihnen zuzuhören, auf sie einzugehen, mit ihnen gemeinsam zu denken
  • Die Engagierte, die sich um das, wofür sie sich zuständig und verantwortlich fühlt, mit sehr großem Einsatz kümmert
  • Die Fachlich-Orientierte, der die Beschäftigung mit Themen ihrer fachlichen Expertise viel wichtiger ist als zum Beispiel Mitarbeiterführung
  • Die Sicherheitsorientierte, der es besonders um materielle Absicherung („nicht Reichtum“) geht
  • Die Kulturliebhaberin, die gerne liest, Musik hört, in Konzerte und Ausstellungen geht
  • Die Ruhesuchende, die Pausen braucht, die Muße und einen ruhigen, frei bestimmten Rhythmus zwischen Arbeitsphasen haben möchte und die es überhaupt nicht mag, „ständig durchgetaktet“ zu sein
  • Die Bewegungsfreudige, die es liebt, zu schwimmen, zu tanzen und spazieren zu gehen    

 

 

Abbildung: Stammmitglieder im inneren Team von Frau Motio

 

Frau Motio machte deutlich, dass einige ihrer inneren Teammitglieder in ihrem jetzigen beruflichen Umfeld systematisch zu kurz kämen und dass dies auch in den letzten Jahren immer schon so gewesen sei. So gäbe es zwar für die Engagierte schier unbegrenzte Einsatzmöglichkeiten und auch die Sicherheitsorientierte, die Dialogorientierte und die Beziehungsorientierte kämen auf ihre Kosten. Die Fachlich-Orientierte wäre aber schon nur eingeschränkt glücklich mit dem, was sie tue und die Kulturliebhaberin, die Ruhesuchende und die Bewegungsfreudige hätten viel zu oft das Nachsehen, was Frau Motio mehr und mehr unzufrieden mache.

Wir entwickelten verschiedene Szenarien, wie Frau Motio innerhalb und jenseits ihres gegenwärtigen beruflichen Umfelds versuchen könnte, ihre verschiedenen Bedürfnisse möglichst gut miteinander zu verbinden. Außerdem verabredeten wir, dass Frau Motio in den nächsten Wochen erst einmal alle Szenarien für sich weiter prüfen und gedanklich und gefühlsmäßig durchspielen sollte. Frau Motio entschied sich dann einige Zeit später dafür, ihre Stelle zu kündigen, sich zunächst eine Auszeit von etwa einem halben Jahr zu nehmen und sich danach eine neue Aufgabe zu suchen, die neben der inhaltlich-fachlichen Passung zugleich auch so beschaffen sein sollte, dass die Kulturliebhaberin, die Ruhesuchende und die Bewegungsfreudige in ihr zu ihrem Recht kommen würden. Dafür wäre sie bereit, sowohl was das Finanzielle angeht, als auch was die Größe und Internationalität der Organisation betrifft, deutliche Abstriche im Vergleich zu bisher zu machen.

Die Arbeit mit dem inneren Team kann mir helfen, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Strebungen in mir klarer wahrzunehmen und dadurch zugleich auch Ideen zu entwickeln, wie ich deren Zusammenspiel für mich insgesamt befriedigender und produktiver gestalten können. Es gibt die Vielen in mir – die jetzt gerade auf der Bühne stehen oder sowieso zu meinen Stammspielern gehören –, und es gibt verschiedene Wege des Umgangs mit den Vielen – jetzt im Moment und auch sonst. Ich kann und sollte die Pluralität in mir sinnvoll gestalten. Aber wer ist eigentlich „ich“? Bin „Ich“ die Summe aller meiner inneren Teammitglieder? Nicht ganz. Offensichtlich gibt es da neben den Vielen immer noch einen mehr. Außer den Teammitgliedern ist da – und hierauf weist uns die Arbeit mit dem inneren Team besonders hin – auch noch eine Art Teamleitung: eine gestaltende, eine führende Instanz.

Wie in einem richtigen Team ‚draußen‘ hat auch die Leitung in unserem eigenen inneren Team die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass eine möglichst gute Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Teammitgliedern zustande kommt. Diese Aufgabe ist manchmal leichter und manchmal schwerer. Manchmal arbeiten die verschiedenen Teammitglieder wie von selbst zusammen und die Teamleitung muss sich fast um nichts kümmern.  Man merkt kaum, dass es sie gibt. Manchmal ist die Kooperation der Teammitglieder aber auch alles andere als harmonisch. Teammitglieder verhaken sich miteinander, geraten in Clinch, Einzelne versuchen, alles zu dominieren oder die anderen mundtot zu machen. In solchen Situationen ist die Teamleitung gefragt. Sie sollte schauen, wer hier eigentlich welches Anliegen hat; sie sollte dafür sorgen, dass die verschiedenen Anliegen artikuliert werden können, dass sich also alle betroffenen Teammitglieder auch äußern dürfen; sie sollte eine Art Moderation übernehmen, um zwischen den zerstrittenen Teammitgliedern ein möglichst produktives Gespräch und eine friedliche Einigung zu ermöglichen, und sie sollte dafür Sorge tragen, dass am Ende ein möglichst sinnvolles Ergebnis steht.

Führung heißt eines dabei sicher nicht: die Strippen zu ziehen wie im Marionettentheater. Das gelingt im äußeren Team nicht und im inneren genauso wenig. Der Versuch, ein Team zu beherrschen, egal was die Mitglieder im Team wollen und wichtig finden, endet im Allgemeinen in Chaos, Destruktivität und Desaster – im äußeren wie im inneren Team. Was Führung vermag, ist, mit viel Einfühlung Bedingungen zu schaffen, unter denen Kooperation als vorteilhaft wahrgenommen und damit wahrscheinlicher wird. Dafür braucht es ein Zusammenspiel mit einer klaren Orientierung an Win-Win. Auch dies ist im äußeren nicht anders als im inneren Team.

Der Charme des Modells vom inneren Team besteht darin, dass es uns, auch mit der Frage in Berührung bringt, wie wir mit verschiedenen Teammitgliedern, die gerade da sind, umgehen, wie wir sie führen möchten. Die Arbeit mit dem inneren Team lenkt also ganz wie von selbst den Fokus auf eine Instanz in uns, die man als eine Art innere Führungskraft ansehen könnte. Indem diese Instanz in den Blick kommt und indem deutlich wird, dass sie gestalten kann und wie sie gestalten kann, wird sie zugleich gestärkt. Und das ist vielleicht der fruchtbarste Punkt in der Arbeit mit dem inneren Teams überhaupt: Wenn wir die Fähigkeit, unser inneres Team gut zu führen, stärken, dann stärken wir nichts anderes als unsere Fähigkeit zu kraftvoller Selbstentfaltung.

 

Die Arbeit mit dem inneren Team stärkt die Instanz der inneren Führungskraft in uns. Indem wir erkennen, welchen Gestaltungsspielraum wir im Umgang mit unseren verschiedenen inneren Teammitgliedern haben und wie eine gute Kooperation zwischen ihnen gefördert werden kann, gewinnen wir an Klarheit, Kraft und Drive.

 

Literaturverzeichnis

 

Covey, S.: Die 7 Wege zur Effektivität. Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg. Offenbach: Gabal

Hölscher, S.: Strategien für ein Leben mit Drive. Vorabpublikation aus dem 2011  von  Stefan  Hölscher  im Junfermann Verlag erscheinenden Buch: Leben mit Drive. Erschienen als Skript der Metrion Management Consulting, Frankfurt a.M.

Hölscher S., Reiber W., Pape, K. & Loehnert-Baldermann, E.: Die Kunst gemeinsam zu handeln. Soziale Prozesse professionell steuern. Berlin: Springer Verlag

Hölscher, S.: Stresskreisläufe. Zur Wahrnehmung und Auflösung problemverstärkender Systemdynamiken. Erschienen als E-Book unter www.active-books.de  im Junfermann  Verlag, Paderborn

Mücke, K.: Systemische Beratung und Psychotherapie. Ein pragmatischer Ansatz. Berlin: Ökosysteme Verlag

Schulz von Thun, F.: Miteinander Reden: 1: Störungen und Klärungen; 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; 3. Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek: rororo

Von Schlippe, A. & Schweitzer, J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


Individuelle Beratung unter +49 69 9399677-0 oder info@metrionconsulting.de

Das Grundprinzip für Drive: Schätze, was da ist – was auch immer es ist. Nimm es an und geh davon aus, dass sich etwas Sinnvolles daraus machen lässt.

Dr. Stefan Hölscher - Partner, Metrion Management Consulting