15. Juni 2003

Die Magie der Extreme oder von der unscheinbaren Kunst der Balance

Die Welt des Dramas ist voll davon: Auf maßlose Liebe folgt maßloser Hass, auf blinde Friedfertigkeit folgt blinde Destruktivität, grenzenloses Vertrauen kippt über in grenzenlosen Argwohn, der Terror der Ordnungslosigkeit wird abgelöst durch die Tyrannei des herrschenden Gesetzes ... Als Zuschauer lieben wir dies ungestüme und wilde Wechseln der Gegensätze mit all seinen Auf's und Ab's, seinen unentwirrbaren Verwicklungen, seinen echten und Beinahe-Crashs und den ebenso unermüdlichen wie zumeist sinnlosen Versuchen, die Dinge endlich zum Besseren zu bringen. Unsere Aufmerksamkeit ist gebannt und das Spiel bleibt für uns spannend, fast so spannend, wie die unglaublichste aller Geschichten, die ja bekanntlich nur das Leben selber schreiben kann. Als hätte ein unsichtbarer und im Vergleich zu jedem Dramendichter unendlich viel mächtigerer Dramaturg es eingerichtet: Auch in unserem eigenen ‚normalen' Leben müssen wir auf das unsere Aufmerksamkeit so kitzelnde Kippen der Gegensätze nicht ernsthaft verzichten. Wir haben auch hier das ganze Arsenal der dramatischen Extreme life – nur mit dem Unterschied, dass wir hier zugleich mitspielen und die Folgen selbst erleben dürfen. Und das gilt insbesondere auch für alle Bereiche unseres wirtschaftlichen und organisationalen Lebens.

Schon die gesellschaftlich-wirtschaftliche Makroebene bietet hierfür reichlich Anschauungsmaterial. Auf die rasende Euphorie der New Economy mit dem Glauben an die Ewigkeit eines virtuell initiierten Wirtschaftsaufschwungs und der Idee, ausgestattet mit einem Internetzugang, einem Computer und ein paar mehr oder weniger originellen Ideen, beliebig grandiose Geschäfte aufbauen zu können, folgte der nicht minder vehemente Run auf die ach so realen, ach so greifbaren und ach so bewährten Strategien, Konzepte und Strukturen der gerade eben noch als eingestaubt und viel zu wenig profitabel abgekanzelten Old Economy. Auf die kanonisierten Stabilitätswerte der Nachkriegszeit (Bindung! Treue! Berechenbarkeit! Perfektion! Beständigkeit! usw.) folgte das nicht weniger orthodoxe Credo der Flexibilitätswerte (Dynamik! Tempo! Initiative! Aggressivität! Veränderungsbereitschaft! usw.). Und auf das Zeitalter national-rigider Regulierungen und (Außen-)Handels­beschränkungen folgte das Zeitalter fast grenzenloser und ungezügelter Deregulierung und Liberalisierung. Aber auch auf der Ebene innerorganisationalen Handelns gibt es für das nahtlose Sich-Abwechseln der Gegensätze Beispiele zuhauf. So folgt in nicht wenigen Organisationen auf extreme Diversifizierung extreme Kernkompetenz-fokussierung; massive Kooperationslethargie schwappt über in eine beinah schon panische Expansions- und Fusionsmanie und die Tyrannei aus dem Ruder gelaufener Organisationsbürokratie wird nahtlos abgelöst durch die Tyrannei der aus dem Ruder gelaufenen Shareholder Forderungen. Problemlos fortsetzen lassen sich solche Beobachtungen auch auf der auf der Ebene von Organisationsteilen und Individuen. Man denke etwa an den Vorgesetzten, der mit seiner Beförderung komplett vergessen hat, wie es ist, Mitarbeiter zu sein oder das abrupte Insgegenteil-Schlagen von Führungsstilen (z.B. das Pendeln zwischen unfundiertem Delegieren und detaillistischem Dirigieren) oder Verhaltensweisen (siehe etwa das George-W.-Bush-Phänomen: Der pflichtvergessene Zecher konvertiert über Nacht zum selbst­gerechten Hypermoralisten).

Mit nur ein wenig Abstand scheint klar zu sein, dass die meisten, wenn nicht alle dieser extremen Umschwünge als Antwort auf eine als außerordentlich wahrgenommene Problem- oder Herausforderungssituation bereits den Keim des kommenden Desasters (selbst wenn dieses eine ganze Weile später kommt) in sich tragen. Wie aber kommt es überhaupt angesichts doch unzähliger Erfahrungen mit den malignen Folgen entfesselter Extreme und angesichts einer Kultur und Gesellschaft, die wie keine zweite in der Geschichte Wissens­management und Lernen propagiert und praktiziert, wie kommt es zu diesem unablässigen Von-einem-Extrem-ins-andere-Fallen’, und welche Anforderungen ergeben sich aus dieser offenbaren ‚Magie der Extreme’ für ein der Vernunft und dem langfristigen Erfolg tatsächlich verpflichtetes Management?

Zunächst einige Thesen zur Motivation von Extremen: Je ausgeprägter die – mehr oder weniger bewusste - Angst ist, einem als großes Übel empfundenen Zustand nicht entkommen zu können oder in ihn hineinzugeraten, umso ausgeprägter ist häufig das Bedürfnis den größtmöglichen Unterschied und damit einen sicheren Platz gegenüber diesem Zustand herzustellen. Oft wird dabei alles, was auch nur einen Millimeter vom Extrempunkt dieses größtmöglichen Unterschieds abweicht, bereits mit dem zu meidenden Übel voll identifiziert. Häufig hängt dies mit einem zweiten Punkt zusammen: Menschen neigen dazu, Ambivalenzen, also die Gleichzeitigkeit von Licht- und Schattenseiten in Hinblick auf ein und denselben Sachverhalt, relativ schnell aufzulösen. Nicht selten bedeutet dies, dass an einer Situation, einem Zustand, einem Gegenstand oder einer Person nur noch Gutes gesehen wird (unter erfolgreicher Ausblendung eigentlich relevanter Schwächen) oder aber nur noch Negatives gesehen wird (unter erfolgreicher Ausblendung eigentlich relevanter Vorzüge). Drittens bringen extreme Aktionen zumindest kurzfristig oft den gewünschten Erfolg, sodass sie aus ihren Effekten heraus zunächst Bestätigung finden. Und viertens schließlich provozieren extreme Aktionen nicht selten extreme Gegenreaktionen oder doch zumindest die Befürchtung solcher Reaktionen und führen damit oder einfach über die Wahrnehmung ihres schnellen Erfolgs häufig zu weiteren extremen Reaktionen. So entsteht quasi ein Sog extremen Agierens verbunden of mit dem subjektiven Gefühl, dass gar nichts anderes als die (extreme) Reaktion jetzt noch möglich ist, will man größeren Schaden vermeiden.

All diese Phänomene, die Angst mit einem kleineren (als dem größtmöglichen) Unterschied dem Übel nicht zu entgehen, das mit der vorschnellen Ambivalenzauflösung einhergehende Schwarz-Weiß-Denken, der schnelle Erfolg und die ausgeprägte Eigendynamik extremer Verhaltensweisen sind sowohl bei einzelnen Personen wie auch bei Gruppen, Organisationen, Gesellschaften etc. zu beobachten. Vermuten würde man dabei vielleicht, dass der allein auf sich gestellte Alltagsmensch in die Fallen des Extremen schneller hineingerät als etwa ein über verschiedene Gremien, Expertenanhörungen, Stabsfunktionen und professionelle Vorgehensweisen in seinem Entscheidungsprozess abgesicherter Managementkreis. Für diesen ergeben sich allerdings gleichzeitig auch weitere Schwierig­keiten. (1.) Je größer und komplexer das zu managende System ist, umso schwieriger ist es, mit einzelnen Handlungsakzenten überhaupt Sichtbarkeit zu erreichen. Ungleich stärker als jedes differenziertere Vorgehen bietet dann aber ein extremer Wechsel die Gewähr, wahrgenommen und damit irgendwie wirksam zu werden. (2.) Der Sog des Extremen hat gerade für komplexe soziale Systeme weit mehr als nur eine imaginäre Bedeutung. Es ist noch nicht lange her, dass etwa diejenigen Großunternehmen, die nicht auf dem Wege einer möglichst prallen internationalen Einkaufstour auf globale Expansion gingen (fast schon unabhängig von der Höhe der bezahlten Preise und der Qualität der dabei zusammen­gekauften Firmen) als Verlierer, nämlich Übernahmekandidaten von Morgen galten. Sich einem solchen Sog zu entziehen, kann dann nicht nur phantasierte Befürchtungen, sondern ganz reale Einbußen nach sich ziehen (z.B. über Abwertungen auf den Aktienmärkten), und diese realen Einbußen setzen dann auch die phantasierten Befürchtungen, z.B. einfach aufgekauft zu werden, in ein deutlich realeres Licht und pushen so das Mitschwimmen oder Mitgetriebenwerden im Strom. (3.) Auch noch so viele Gremien, Experten, Stabsstellen oder Vorgehensprozeduren schützen nicht vor „Group Think“, das ist die nicht seltene Tendenz in Gruppen mit den Meinungen zu konvergieren und abweichende Gesichtspunkte schlichtweg auszublenden und zu verdrängen.

Was kann in Organisationen dann aber überhaupt getan werden, um der Magie der Extreme stärker zu widerstehen? Gibt es Ansatzpunkte für Manager, um zumindest die Chance zu erhöhen, zu längerfristig erfolgreichen Balancen zu gelangen? Oder muss man den ewigen Wechsel der Gegensätze in ähnlicher Weise als gegeben hinnehmen wie den Wechsel von Tag und Nacht oder von Ebbe und Flut? - Auch wenn es vielleicht manchmal wie ein Naturgesetz erscheint: natürlich ist es möglich, selbst in extremen Situationen einen nicht-extremen Handlungsweg zu finden, und auch hierfür gibt es ja genügend Beispiele, nur fallen sie weniger auf und beschäftigen uns gemeinhin auch weniger. Was also ist zu tun?

Zunächst gilt es Warnsignale zu beachten. Ein besonders prominentes ist dieses: die deutliche Zunahme der Haltung „Wenn jetzt nicht genau diese Handlung erfolgt, dann droht auf jeden Fall großes Übel, weil ..." Gewiss bestehen immer wieder auch Notwendigkeiten, bestimmte Ziele zu erreichen und manchmal können sich solche Notwendigkeiten auch auf das Ausführen ganz bestimmter Handlungen beziehen. Je häufiger und intensiver das Denken von Individuen, Organisationen, Gesellschaften etc. allerdings von dem Eindruck beherrscht wird, „jetzt muss auf jeden Fall genau das-und-das passieren, weil sonst ...", desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, in den Sog des Extremen zu geraten oder schon mittendrin zu sein. Ein anderes bedeutsames Warnsignal ist oft ein zu beobachtendes Über­borden eigentlich positiver Ressourcen in Stresssituationen. Unter als schwierig wahr­genommenen Bedingungen neigen Individuen und soziale Systeme dazu, vorhandene Tugenden besonders intensiv zu nutzen, also mehr davon zu fabrizieren, um so die sich zeigenden Schwierigkeiten zu lösen. Nicht selten bewirkt ein solchermaßen forciertes Vorgehen dann aber eine Problemverschlechterung, auf die dann mit einer weiteren Forcierung reagiert wird ... So wird beispielsweise eine Führungskraft, die ohnehin besonders schnell und zupackend ist, angesichts eines Mitarbeiters, der ihr eher langsam und zögerlich erscheint, tendenziell Tempo und Griffigkeit erhöhen; nicht selten mit dem Erfolg, dass der (damit überforderte) Mitarbeiter noch langsamer und zögerlicher wird, was die Führungskraft dann zu noch mehr Dampf und Biss bringt ...

Neben der Beobachtung solcher Warnhinweise ist es essentiell, systematisch Multi­perspektivität zu fördern, und zwar nicht in dem Sinne, möglichst zeitraubend möglichst viele Stimmen zu hören, die dann aber doch alle in den gleichen Refrain einstimmen, sondern es geht darum, gerade bei zentralen Fragen unterschiedliche Annahmen, Sichtweisen, Folgerungen etc. nicht nur zu tolerieren, sondern geradezu zu suchen, ihnen ernsthaft erkundend nachzugehen und sie nicht vorschnell beiseite zu legen. Umgekehrt gesagt: Die (allzu) schnelle Einstimmigkeit gerade bei entscheidenden Fragen und Weichenstellungen darf getrost als weiterer Warnhinweis für den Sog des Extremen angesehen werden.

Schließlich – und dies ist möglicherweise noch schwieriger als der Aufbau echter und substantieller Multiperspektivität – gilt es ein doppeltes Risiko einzugehen. Produktive Balancen zwischen den beiden Extrempunkten eines Spektrums zu finden, heißt nicht nur, sich je nach Situationserfordernis und Ziel mal mehr auf der einen, mal mehr auf der anderen Seite des Spektrums zu bewegen. Es heißt auch, beide Seiten eines Spektrums grund­sätzlich gleichermaßen zu schätzen und, auch wenn es gerade einen klaren Akzent auf der einen Seite gibt, in Verbindung miteinander ins Spiel zu bringen. Das aber bringt einerseits bedeutet deutlich mehr Komplexität und Differenziertheit mit sich als extremes Handeln und es beschert andererseits – zumindest für gewöhnlich – auch nicht den ganz so schnell sichtbaren Erfolg.

Um die Kunst, produktive Balancen statt extremer Lösungen zu finden, steht es damit ähnlich wie um die Kunst der Brandprävention im Vergleich zum Feuerlöschen. Jeder sieht und bewundert den erfolgreichen ‚Feuerlöscher’, selbst wenn dieser mit seinem Handeln das nächste Feuer gerade vorprogrammiert. Fast niemand bemerkt oder bewundert aber die erfolgreiche Brandprävention. Je besser sie ist, umso weniger fällt sie auf. In den Zeiten verschärften Shareholder-Value-Denkens sind dies ernstzunehmende Risiken. Können Manager heutzutage riskieren, was längerfristig wohl signifikant erfolgreicher, kurzfristig aber weniger wirkungsvoll und auffällig ist? Dies ist zuletzt eine Wertfrage. Es könnte allerdings sein, dass es Sinn macht, so zu handeln, als ob dies möglich wäre.

Über den Autor

Dr. Stefan Hölscher verbindet fundierte psychologische Erfahrung mit Klarheit und humorvoller Pointierungslust. Er liebt intensive Reflexion als Grundlage für kraftvolle Impulse: als Coach und Trainer ebenso wie als Autor und kreativer Geist.


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